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Abgesprungen. Thomas Schaefer Clemens
Читать онлайн.Название Abgesprungen
Год выпуска 0
isbn 9783347077164
Автор произведения Thomas Schaefer Clemens
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Das Uhrengeschäft mit der Werkstatt vom Uhrmacher Weintraub befindet sich im Parterre eines fünfstöckigen Gebäudes mit reich verzierter Stuckfassade, schönen Giebeln und einem kleinen Türmchen an der Seite. Johannes mag solche Häuser lieber als die moderneren Klinkerbauten, welche gerade auf der Hoheluft-Seite gebaut werden. Die Wohnung der Weintraubs befindet sich in der ersten Etage direkt über dem Laden. Wenn man hinauf will, muss man durch das Uhrengeschäft, in dem stets ein vielstimmiges Ticken zu hören ist, und an der kleinen Uhrmacherwerkstatt vorbei, wo Kinder aber nichts zu suchen haben. Das Uhrengeschäft hat auch einen Hinterausgang der in einen Hof führt.
Frau Weintraub steht hinter der Ladentheke als Opa und Johannes hereinkommen. Sie begrüßt die beiden herzlich. „Geh‘ man schon hoch, min Jung, Rebecca ist oben. Aaron ist noch in der Werkstatt, Herr Maltus. Ach, was sind das nur für Zeiten, täglich muss ich die Preise erhöhen. Wo soll der Schlamassel noch hinführen?“ Opa brummt zustimmend.
Rebeccas Zimmer ist voller wunderbarer Spielsachen. Natürlich hat sie keine Märklin Bahn, wie er eine hat, eben nur Mädchenspielzeug, dafür ein riesiges Puppenhaus mit winzigen Möbeln, sogar ein kleines Klavier und eine Standuhr gibt es, natürlich mit echtem Uhrwerk. Und einen Krämerladen hat sie mit unzähligen Dingen die man auch in einem echten Laden kaufen kann, nur winzig klein. Spielgeld gibt es ebenfalls, man muss schließlich bezahlen. Schade, dass Jungs mit sowas eigentlich nicht spielen, überlegt Johannes. „Und was möchten Sie heute kaufen, der Herr?“, tönt sie mit verstellter Stimme und bindet sich sogar eine passende Schürze um. „Och, weiß nicht.“ „Kolonialwaren? Ein Ei? Eine Flasche Brause? Oder ein Pfund Mehl?“, schlägt sie vor. „Eine Flasche Brause“, antwortet er endlich. „Ach was sind das für Zeiten, täglich muss ich die Preise erhöhen“, seufzt sie, „macht Zehnmillionen Mark, der Herr.“ Johannes zählt ihr ein paar Spielgeldpfennige aus Pappmaché auf die Hand. Sie reicht ihm ein Spielzeugfläschchen, legt die Münzen in die Kasse und nickt zufrieden. „Wollen wir lieber Schule spielen?“ fragt sie nach einer Weile. „Hmm“, macht er ein wenig unentschlossen. „Also, ich bin die Lehrerin und du das Schulkind.“ „Immer muss ich das Schulkind sein“, mault er. „Umgekehrt geht es wohl nicht, du kommst ja erst im nächsten Jahr zur Schule und hast noch nichts gelernt, was du mir beibringen kannst.“ Dagegen kann er nichts sagen. Sie reicht ihm resolut ihre Schiefertafel und einen Griffel und bedeutet ihm mit strenger Miene sich zu setzen.
Die Familie Weintraub hat eine komfortable Wohnung und schöne Möbel. Rebecca ist ihr einziges Kind. Herr Weintraub war im großen Krieg und hat ein Holzbein, genau wie Papa. Papa links und Herr Weintraub rechts. Aber Papa redet nicht mit Herrn Weintraub. Opa und Herr Weintraub hingegen treffen sich oft, obwohl Opa viel älter ist. Die beiden reden meistens von ernsten Dingen von denen Johannes kaum etwas versteht. Dass die Regierung nicht immer neues Geld drucken kann und wo das hinführen soll, und dass die Franzosen das Rheinland besetzt haben, und was im Winter werden soll, wenn die Kohlenzüge nicht mehr rollen, und dass Versailles an allem Schuld sei. Warum bestrafte man diesen Versailles nicht, wenn er doch an allem Schuld war, fragt sich Johannes und ahnt bereits, dass die Welt verdammt kompliziert sein kann. Im Wohnzimmer der Weintraubs steht ein Klavier. Einmal hat Frau Weintraub darauf gespielt und es hatte wunderschön geklungen. In Frau Weintraubs großer Küche gibt es zwei Geschirrschränke. Einen für die milchigen- und einen für die fleischigen Speisen. Töpfe und Teller muss man getrennt benutzen und getrennt aufbewahren sonst kann man kein koscheres Essen bereiten, hatte Rebecca ihm einmal erklärt. Frau Weintraub hatte lakonisch hinzugefügt, dass es zurzeit aber kaum Milchiges und Fleischiges zu kaufen gäbe, eher Gammeliges und Fauliges. Bevor Opa und Herr Weintraub sich verabschieden, trinken die beiden jedes Mal einen Schnaps. Auf bessere Zeiten! Frau Weintraub schüttelt dann immer vorwurfsvoll den Kopf.
Maltus konnte dank seiner eigenen Weitsicht allerdings recht beruhigt in die Zukunft sehen. Als sich bald nach Ausbruch des Krieges abzeichnete, dass Paris nicht im Handstreich einzunehmen sei, zum Frühstück nach Paris, wie es deutsche Landser begeistert auf jene Wagons geschrieben hatten, die sie an die Front brachten, musste jedem gestandenem Kaufmann, dem der Patriotismus nicht völlig das Hirn vernebelt hatte, klar sein, dass keiner der kriegführenden Staaten ausreichend Kapital hatte, so eine Vernichtungsmaschinerie dauerhaft zu finanzieren. Maltus hatte sporadisch Kriegsanleihen gezeichnet, um unverdächtig zu bleiben, jedoch immer wieder amerikanische Dollar und Goldmünzen gekauft, solange dies noch möglich war. Das war nun sein Ruhekissen.
Einen Monat später muss Johannes mit seinen Schwestern ein paar Tage im Haus bleiben. Opa passt auf die Kinder auf und ermahnt sie immer wieder vom Fenster wegzubleiben. Auf den Straßen fahren Soldatenautos und Panzerwagen der Reichswehr auf und ab. Ob draußen Krieg sei, hatte Johannes gefragt. „Nein, ein kommunistischer Aufstand, in Barmbek haben sie auch geschossen, aber so schlimm wie Krieg sei das nicht und bestimmt in ein paar T agen wieder vorbei.
Opa hatte Recht behalten. Einige Tage später ist alles wieder ruhig. Als Opa und Johannes am Vormittag mit der Hochbahn fahren wollen, müssen sie zwanzig Milliarden Reichsmark für eine Fahrkarte bezahlen. Sie haben Glück, dass überhaupt eine Bahn fährt, da häufig der Strom ausfällt, weil es kaum noch Kohlen gibt. Man kann kaum mehr etwas mit dem wertlosen Geld kaufen. Auch Herr Weintraub hatte seinen Uhrenladen seit zwei Wochen geschlossen und die kostbaren Uhren in seiner Wohnung versteckt. Es wird fast nur noch getauscht. Die Maler, Stuckateure und Klempner, die in Papas maroden Hotel arbeiten, bekommen zwei Eier oder ein halbes Pfund Butter und einen Teller Suppe für ihre Arbeit. Die Eier und die Butter brachte Onkel Gustav mit, der eine kleine Landwirtschaft in den Vier- und Marschlanden betreibt. Onkel Gustav bekam dafür Papas alten Mantel und manchmal eine von den Weinflaschen, die im Keller des Hotels lagern.
Paul Seibel hatte drei Jahre zuvor das marode Gebäude am Großen Burstah, einer belebten Geschäftsstraße in guter Lage, ersteigert, denn nach dem großen Krieg waren die Immobilienpreise im Keller. Finanziert hatte er den Kauf durch eine Erbschaft, und einen Bankkredit, den Rest hatte Opa Maltus beigesteuert. Dafür gehören ihm 10% des Hotels, welches vier Stockwerke und 24 Gästezimmer hat. Im Erdgeschoss befinden sich der Empfang mit Rezeptionstresen, sowie ein Restaurant und die zugehörige Küche. Unter dem Dach gibt es mehrere Kammern für die Angestellten. Angestellte hatten die Seibels allerdings nicht. Bisher waren nur drei Zimmer renoviert, wurden aber selten vermietet in diesen Zeiten. Paul Seibel träumt davon das Hotel möglichst bald komfortabel auszubauen, um zahlungskräftige Gäste anzulocken. Davon sind sie allerdings meilenweit entfernt, denn es gilt erst einmal diese Krise zu überstehen. Jetzt weigern sich auch noch die Handwerker weiterzuarbeiten. Mama, die am Tisch sitzt und ihren Wintermantel trägt, wirkt verzweifelt, als Johannes und Opa durch die Eingangstür kommen. Draußen heult der Novemberwind. Innen ist es kalt, weil es keine Kohlen zum Heizen gibt.
Später als sie vor ihren leeren Suppentellern sitzen, ohne richtig gesättigt zu sein, fragt Auguste ihren Vater: „Papa, kriegen wir zu Weihnachten auch so eine Puppenstube wie Rebecca Weintraub eine hat?“ Paul Seibel, ein stets ernst wirkender Mann, schüttelt energisch den Kopf und funkelt seinen Schwiegervater an. „Hast du die Mädchen mit zu diesem Juden genommen, Wilhelm?“ Opa macht ein unappetitliches Gesicht. „Weshalb denn nicht? Meinst du die fressen deine Kinder auf? Die Weintraubs sind rechtschaffene Leute.“ „Wilhelm, ich will nicht, dass du mit den Gören immer zu dieser Judenbrut gehst!“, brüllt Paul Seibel plötzlich. „Reg dich nicht auf! Und was hast du überhaupt gegen den Weintraub? Er war auch im Krieg, hat seine vaterländischen Pflichten erfüllt, hat in Frankreich ein Bein verloren genau wie du.“ „Die Juden sind schuld an der ganzen Krise, mit ihrer Schacherei und den Krieg haben wir auch wegen denen verloren, wie man jetzt hört. Außerdem verdirbt das die Mädchen nur. Siehst ja was dabei rauskommt. Jetzt wollen meine Töchter eine Puppenstube, wo wir kaum was zu beißen haben und die verdammten Juden kaufen ihrer Brut teure Spielsachen und leben wie die Maden im Speck. Außerdem sollen die Mädchen sich lieber in der Küche nützlich machen.“ „Guste, Wilhelmine, ihr habt gehört was Papa gesagt hat,