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waren, konnte man die Überfahrt eigentlich als ziemlich langweilig bewerten. Gegen sieben Uhr morgens wurden die Fahrgäste entlassen, eine Stunde später kamen auch Pferd und Karren von Bord. Robert und der Junge machten keine längere Pause, sondern versuchten gleich die Hafenstadt in Richtung Südwesten zu verlassen.

      Es wimmelte hier nur so von englischen Soldaten. Karl VII. hatte die Angelsachsen zwei Jahre zuvor aus fast ganz Frankreich vertrieben. Aus fast ganz Frankreich - hier in Calais saßen sie noch immer und kontrollierten den Hafen. So war es zwar leicht auf dem Seeweg in die Stadt hinein zu kommen, als Landsmann. Doch über das Festland wieder hinaus zu fahren, war dafür überaus mühselig, denn man war als Engländer nicht sonderlich willkommen, im restlichen Feindesland. Rings um die Stadt verteilt, standen berittene Franzosen, die nur darauf warteten, die Stadt endgültig zurückzuerobern und der Ring, den die Belagerer vor der Stadt gebildet hatten, konnte nur dann durchschritten werden, wenn man tausend Fragen, bezüglich der Absicht und Aussicht der Reise beantwortete und alle Gegenstände vom Karren nahm, die nur irgendwie nach einer Teufelei rochen. Und um dieses leidige Prozedere schnell hinter sich zu bringen, wollte Robert möglichst zeitig aus Callais herauskommen, noch bevor sich eine meilenlange Schlange bilden würde. Proviant hatten sie genug und es gab daher keinen Grund länger zu bleiben, als nötig.

      Die Sonne stand schon hoch als sie endlich die Ebenen von St. Omer erreichten und sie ihre erste Rast, hinter den feindlichen Linien, einlegten. Von einem kleinen Hügel aus, auf dem die beiden ein Feuer entzündet hatten, konnte man die Stadt an der Küste noch immer sehen. Aus einigen Häuserkaminen stiegen Rauchschwaden auf und um Calais herum erkannte man die Stadtmauer - ein Schutzwall aus gewaltigen Steinbrocken - die die Bewohner noch immer in Frieden hüllte. Aber von der See kommend, sah man bereits kleine weiße Segel, die langsam auf die Küste zuhielten und die bevorstehende Schlacht näherbrachten. Hunderte von englischen Soldaten wurden verschifft und in Stellung gebracht. Es war eine unruhige Stille und selbst die Vögel wussten, dass diese Ruhe nicht von Dauer sein würde.

      »Wir sollten schnell aufbrechen und weiter Richtung Süden fahren.«meinte Robert. »Der Krieg wird bald fortgesetzt werden, vielleicht auch weiter südlich. Wir sind hier keinesfalls sicher.« Der Junge nickte und Robert kam es so vor, als würde er sein unbedeutendes kleines Leben in des Anführers große Hände legen. Langsam wurde Robert klar, dass er jetzt eine Verantwortung trug. Er hatte den Jungen ohne Namen mit auf diese Reise genommen - warum auch immer - und er war nun dessen Vormund, oder so etwas ähnliches.

      Die beiden brachen ihr Lager ab und fuhren los. Mit jedem Tag, den sie weiter Richtung Süden kamen, wurde die Sonne intensiver und das Gesicht des Jungen lebendiger. Robert kannte noch immer nicht seinen Namen, obwohl er ihn bereits hundert Male danach gefragt hatte. Merkwürdig war auch, dass der Junge gar kein Interesse am eigentlichen Ziel der Fahrt zeigte. Offenbar war ihm nur wichtig gewesen, aus London heraus zu kommen. Was danach kam, schien ihm völlig gleichgültig zu sein. Aber mit jeder Meile wurde er munterer und Robert freute sich darüber. Diese Mischung aus Angst und Zurückhaltung, die sich bisher im Gesicht des Jungen als Ausdruck von Vorsicht manifestiert hatte, betrübte ihn sehr. Deshalb fuhren die beiden anfangs nur sehr still und völlig deprimiert vor sich hin - keiner sprach etwas. Doch langsam tauten die Gesichtsmuskeln des Jungen auf und er gewann Vertrauen. Seine Mimik wurde zahlreicher und Robert glaubte bald sogar, dass er die Antworten auf seine gestellten Fragen nur an den Gesichtszügen ablesen könnte. Eine Bestätigung dafür bekam er aber nie - zumindest nicht bis zu diesem Tag. »Willst du denn gar nicht wissen, wohin wir fahren?« fragte Robert den Jungen.

      Zwar antwortete der wieder nicht, aber Robert erkannte diesen Blick. Diesen hier interpretierte er als … doch.

      »Dann verrate mir deinen Namen und ich werde dir dafür unser vorläufiges Ziel erklären.«

      Nichts. Der Junge rührte keinen Finger, geschweige denn seine Zunge. »Was ist bloß mit dem los?« dachte Robert. »Ich kann mir kein Schicksal vorstellen, das eine Zunge so bewegungslos macht, wie es bei dir der Fall ist« scherzelte er, und dieser Satz tat ihm hinterher sehr leid.

      Robert hatte keinesfalls damit gerechnet, aber endlich öffnete der Junge seinen Mund. Doch hörte Robert noch immer nichts aus ihm herauskommen. Kein Ton war zu vernehmen. Stattdessen sah man einen Stummel, der sich flink hin und her bewegte. Der Mund schloss sich wieder und Robert hätte sonst etwas dafür gegeben, wenn er diese alberne Bemerkung von eben unterlassen hätte. Für den Jungen hatte es keine große Bedeutung, dazu lebte er schon zu lange ohne eine Zunge. Aber den Stummel jedem Menschen gleich beim ersten Treffen zu offenbaren, dazu gab es genauso wenig Grund. Vor etwa einem Jahr hatte er eine kleine Auseinandersetzung mit dem Koch eines Marineklippers, der ihn um sein Organ und den Kapitän zu einer unerwarteten, exzellenten Sülze brachte.

      »Ähm …« fing Robert etwas verlegen an. »… also das tut mir leid. Offenbar gibt es doch einen triftigen Grund für dein Schweigen. Warum hast du das nicht früher gesagt? … Ach nein, das war blöd … Kannst du dich denn anders verständigen? Lesen und schreiben hast du sicher nicht gelernt, oder?«

      Der Junge schüttelte den Kopf, zeigte aber gleichzeitig mit seinem Zeigefinger in die Luft, als bedeutete er: »Jetzt bitte mal aufpassen.« Sein Finger zeigte auf einen kleinen Baum, der gerade am Wegrand vorbeizog.

      »Ein Baum« sagte Robert. »Du zeigst mir einen Baum oder vielleicht einen Ast.«

      Der Junge schüttelte den Kopf. Das war es wohl nicht, was er sagen wollte. Dann zeigte er auf einen größeren Baum.

      »Eine Eiche« riet Robert.

      Aber das war es auch nicht. Um es zu verdeutlichen sprang der Junge jetzt vom Wagen und legte zwei Äste zu einem Kreuz zusammen und kniete sich betend davor.

      Robert hielt den Karren an, drehte sich zu dem Jungen um und fing an zu raten: »Ähm … Beten … Kirche … Priester« rief Robert, dem das Spiel langsam Spaß machte.

      Wieder schüttelte der Junge den Kopf. Dann öffnete er seine Handflächen, als hielte er ein Buch darin fest. Er blätterte in der Luft.

      »Ein Buch« überlegte Robert. »Er kniet, er betet und blättert in einem Buch … Die Bibel« rief Robert. »Ja, die Bibel ist es« und der Junge nickte.

      »Wozu willst du jetzt eine Bibel haben?« fragte Robert gleich hinterher und kramte dann in seinem Beutel nach einer Bibel.

      Wieder schüttelte der Junge den Kopf. Dann hob er einen Stein auf und schwang seinen Arm, wie mit einer Schleuder. Der Stein löste sich aus seiner Hand und landete auf dem Stamm der vorher gezeigten Eiche. Der Junge blickte Robert an, aber der schien nichts zu verstehen. Dann schlug sich der Junge mit der Hand an den Kopf und fiel um.

      »David und Goliath. Dein Name ist Goliath, wie der Riese aus der Bibel« sagte er mit einem Grinsen auf den Lippen.

      Ratlosigkeit machte sich im Gesicht des kleinen Jungen breit.

      »Ist ja schon gut. Ich hab’s verstanden« sagte Robert. »Dein Name ist natürlich David.«

      Der lächelte, nickte mit dem Kopf und sprang wieder auf Robert’s Einachser auf.

      »Das ging ja gar nicht so übel, für den Anfang« bemerkte Robert als er wieder die Zügel in der Hand hatte und die Fahrt fortsetzte. »Aber wenn wir für jedes Wort, das wir beide wechseln wollen, anhalten und Bilderrätsel lösen müssen, kommen wir nie in Ales an. Dahin fahren wir nämlich gerade. Aber es wird schon noch ein paar Tage dauern, bis wir dort sind. Vielleicht können wir unsere Verständigung noch etwas verbessern.« David grinste und stimmte zu. Von diesem Tag an, wurde ihre Reise zusehends unterhaltsamer.

      Ludwig der XI. regierte seit einigen Jahren in Paris mit unerbittlicher Härte. Zu dieser Zeit war er zwar noch kein König, hatte aber zumindest hier schon die Macht von seinem Vater übernommen. Anfangs begnügte er sich noch damit einfache Frauen unehrenhaft zu behandeln, doch mehr und mehr gab er sich seinen Machtgelüsten hin. Ein paar Jahre nach seinem Anflug von Größenwahn starb König Karl VII. und Ludwig wurde in Avignon, der einstigen Papststadt und ehemaligen Residenz von Karl dem VII., zum rechtmäßigen König gekrönt. Endlich konnte er die unbeschränkte Monarchie einführen, was ihn zum absoluten Herrscher machte

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