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Der Physicus. Volker Schmidt, Prof. Dr.
Читать онлайн.Название Der Physicus
Год выпуска 0
isbn 9783347066137
Автор произведения Volker Schmidt, Prof. Dr.
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Robert drehte sich wieder um und fuhr weiter. Langsam näherten sie sich dem Hafen. Die Straßen wurden enger und die Häuser wurden älter und wirkten verfallener. Je näher sie dem Fluss kamen, desto länger standen die Häuser schon, und desto baufälliger waren sie. Außerdem stank es hier sehr nach Exkrementen, denn alle Rinnsteine wurden an diesem Ort zusammengeführt und das darin Beförderte wurde zum größten Teil in die Themse geleitet. »Noch viel länger kann das so nicht gut gehen« dachte Robert. Jahr für Jahr wurden die Seuchen schlimmer und die Krankheiten nahmen an Zahl und Gestalt zu. Einige Heiler befürchteten schon, dass sich die Cholera mit der Zeit ausbreiten könnte. Es gab sogar welche, die die Pest ankündigten, und die forderten daher auch eine schnelle Lösung für das Abwasserproblem der Stadt. London war in den letzten Jahrzehnten derart schnell angewachsen, dass es die Mengen an Unrat nicht mehr bewältigen konnte.
Robert lenkte den Wagen jetzt hastig um eine Ecke, die zur Themse führte, damit sie dem erbärmlichen Gestank schnell entfliehen würden.
»Wir sind bald da« sagte er. »Am Hafen werden wir, falls du überhaupt noch willst, ein Schiff nehmen und aufs Festland übersetzen.« Der Junge nickte bedächtig. Robert sah ganz deutlich, dass ihn etwas beunruhigte. Er bemerkte die Angst, die sich seit der letzten Wegbiegung, in den Augen des Jungen auftat. Das blanke Entsetzen schien mittlerweile durch seine Pupillen zu kommen und blass wurde seine Haut. Es war offensichtlich, dass der Anlass für die Angst des Jungen direkt vom Hafen kam.
Mehrere Schiffe lagen am Ufer, als sie den Kai erreichten. Neben einem großen Dreimaster der königlichen Marine standen etwa zwanzig Rotröcke und suchten gezielt nach jemanden oder etwas. Vor den Baumwollballen, die gestapelt am Rand der Lagerhäuser aufgereiht waren, hatten sich bereits zwei Schlangen formiert, in der ein Wagen hinter dem anderen eine Gasse bildeten. Einige Soldaten durchsuchten die wartenden Karren und stellten unangenehme Fragen. Manche stocherten sogar mit ihren Bajonetten in den transportierten Waren herum, die auf den Pferdewagen mitgeführt wurden. Robert hielt den Wagen an und drehte sich zu dem Jungen um. »Sie suchen nach dir, nicht wahr?« Er wartete nicht auf die Antwort, sondern griff sofort nach einem Sack, der hinter ihm auf der Ladefläche des Karrens lag. Er war ebenfalls patschnass von der Begegnung mit dem kleinen Jungen und es roch noch immer sehr streng nach ihm. Robert wollte das ausnutzten und meinte deshalb: »Hier … kriech darunter und leg dich zwischen die anderen Säcke. Sie werden sie nicht anfassen.«
Der Junge tat was ihm gesagt wurde und hielt den Atem an, während Robert sich umdrehte und den Wagen unauffällig wieder in Bewegung setzte. Direkt auf die Rotröcke zusteuernd, stellte er sich wie alle anderen auch an die hinterste Stelle einer der beiden Schlangen an und wartete darauf, durchsucht zu werden. »Lieg’ jetzt ganz still und bring’ deine Zähne zum Schweigen« bemerkte er noch schnell bevor der erste Soldat zu ihrem Wagen kam. Misstrauisch beäugte er Robert’s Karren, der mit allerlei Gütern beladen war.
»Wie ein fahrender Verkäufer seht ihr nicht aus. Was habt ihr geladen und wo wollt ihr hin damit?« fragte der Soldat streng.
»Proviant und zur King George, wenn’s recht ist« gab Robert zu verstehen.
»Ein bisschen viel für eine Person« sagte der Soldat. »Meint ihr nicht auch?«
»Ich habe eine lange Reise vor mir und möchte nicht durch zusätzliche Einkäufe aufgehalten werden.«
»Wo soll’s denn hingehen?« fragte der Soldat nach, denn er hatte das Flattern in Robert’s Stimme bemerkt.
»Nach Italien. Zu einem Freund.«
»Soso, bis nach Italien. Ein weiter Weg … Na gut. Habt ihr einen dreckigen kleinen Schiffsjungen gesehen, der in zerrissenen Kleidern herumläuft?« fragte der Rotrock nach, während er mit seinem Bajonett zwischen den Beinen von Robert herumfuchtelte. Ein zweiter Soldat war bereits auf den hinteren Teil des Wagens aufgesprungen und arbeitete sich gerade bis zum Sitzbock des Karrens vor. Während der erste Rotrock Robert’s Füße durch die Gegend schob, um mit seiner Muskete unter dem Sitz zu suchen, hatte der zweite offenbar schon etwas gefunden. Der Soldat holte aus und stach mit seinem Bajonett zu. Robert erschrak und sein Gesicht wurde blass vor Angst, denn die Schneide war auf Widerstand gestoßen, genau da wo der Junge lag. Es rührte sich aber nichts unter dem Sack und kein Laut war zu hören. Vielleicht war es bereits zu spät und der Junge war schon tot, oder aber, der Hieb hatte sein Ziel verfehlt. Ungewissheit gepaart mit Furcht stand in Robert’s Gesicht, als er sah, dass der Soldat zu einem weiteren Streich ausholte. Er umklammerte die Zügel etwas fester, bereit sofort loszufahren und zu flüchten, falls nötig. »Das hab’ ich allerdings« antwortete Robert schnell auf die Frage des ersten Soldaten. »Vor etwa einer halben Stunde in Sir Lorradal’s Kramladen in der Salsburyroad. Hatte eine dreckige Fresse und Blut an der Backe. Er sah aus wie ein begossener Pudel.«
»Dann hast du ihn wohl mitgenommen. Hier riecht’s nämlich genauso« sagte der Soldat auf der Ladefläche und wollte zustechen.
»Das ist er« schrie der andere. »Alles hierher. Wir haben ihn.« Robert gerann das Blut in den Adern, darauf wartend, dass der Junge unter dem Sack hervorgeholt wurde. Die anderen suchenden Soldaten rannten auf den Schreienden zu und warteten auf weitere Befehle, als Robert gerade den Wagen in Bewegung setzten und flüchten wollte, aber dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Der Soldat auf der Ladefläche stach nicht zu und er enthüllt auch nicht den Jungen, sondern sprang stattdessen einfach vom Wagen runter. Dann reihten sich alle Soldaten auf, es gab ein Kommando und die ganze Mannschaft rückte ab, in Richtung altes Hafenviertel.
Im Gegensatz zu dem, was Robert zunächst vermutet hatte, waren die Rotröcke noch nicht erfolgreich gewesen. Allerdings glaubte der Offizier, dass er den Jungen auf Grund von Robert’s Beschreibung bald finden würde. Um ein Haar wäre die Reise vorbei gewesen, ehe sie überhaupt begonnen hatte, und das Leben des Jungen, und sein’s wahrscheinlich auch, wären auf der Stelle verwirkt gewesen. »Wow« entkam es Robert erstaunt und froh zugleich. »Das war ja schon wieder ziemlich knapp.«
Als die Soldaten außer Sicht waren, sprang er vom Wagen und zog den stinkenden Sack hervor. Der Junge lag still und zusammen gekauert neben und - Gott sei Dank auch - unter den anderen Säcken. Er hatte die Augen geschlossen und verzog keine Miene, aber er blutete. Es war eine tiefe Wunde am Arm, die ihm der Soldat beigebracht hatte. Sie war nicht lebensgefährlich, aber sicher äußerst schmerzhaft und würde eine Narbe hinterlassen. Die Disziplin des Jungen war beeindruckend. Nicht ein einziges Jammern oder Ächzen kam über seine Lippen, als er den Stich mit dem Bajonette ertragen musste. Und jetzt, da sie weiterfuhren, ließ sich der Junge ebenfalls nicht helfen. Er blieb auf der Ladefläche liegen, hielt sich den Arm und nur sein Kinn, das er kurz nach vorne gehoben hatte, zeigte an, dass er noch immer bereit war, die Reise fortzusetzen.
Robert hatte eine Kabine auf der King George, einem Zweimaster, erstanden, in der auch der Junge Platz finden konnte. Eigentlich wollte er sich gleich um die Wunde des Jungen kümmern, doch der erlaubte es erst, als alles verstaut war und das Schiff abgelegt hatte. Es war nicht ganz so schlimm, wie er zunächst vermutete hatte, doch die Wunde blutete noch immer, und Robert verband sie mit einem altbewährten Hausmittelchen - einem Kräuteraufstrich, dessen Zusammenstellung er von einer alten Freundin erlernt hatte.
Am nächsten Morgen waren sie bereits einige Meilen Flussabwärts unterwegs. Immer westwärts Richtung Küste. Ab und zu, wenn der Wind nicht richtig stand oder die Fahrrinne noch zu seicht zum Segeln war, wurde mit Pferden am Wegesrand nachgeholfen. Dann ging es nur mühsam voran. Aber schließlich erreichten sie nach drei Tagen in Southend die offene See, wo der Kapitän sofort alle Segel setzten ließ und es dann mit großer Fahrt Richtung Frankreich ging. Der Junge war vorerst in Sicherheit, wenn er auch keine Ahnung hatte, wohin er mit Robert eigentlich unterwegs war.
Kapitel IV - Freibeuter
Callais, Küste von Frankreich
1456 anno Domini, Sommeranfang
Nach vier Tagen hatte das Schiff