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Dickicht. Es ist unbequem. Bald wird es dunkel, dann wird es einfacher. Den Schlüssel des roten Polos, in dem ich hergefahren bin, habe ich stecken gelassen - es wäre verschwenderisch, ihn mitzunehmen.

      Dass ich feige bin, weiß ich, doch es ist mir egal. Du und all die anderen haben zugesehen und nichts getan. Und ich? Ich habe es zugelassen. Wer Schuld hat? Diese Frage stelle ich mir schon lange nicht mehr, die Liste wäre zu lang. Meine Freunde, meine Eltern und dann warst da noch du, Jonas.

      Du warst reinstes Gift und ein Gegenmittel gab es nicht. Nach der Sache mit dem Tape wollte ich nichts weiter als unsichtbar sein und es irgendwie durchs Schuljahr schaffen, doch du und jeder andere haben mich täglich daran erinnert, was passiert ist. Es hieß „ich sei einfach zu haben“ oder „eine Schlampe“. Als ich am Boden lag, hat sich niemand zu mir gelegt und gesagt „Hey, was eine scheiß Aussicht, lass uns wieder aufstehen“,nicht einmal meine besten Freunde Lena und Jana. Nein, ihr habt mich mit euren Sprüchen und Lästereien dazu verdammt, am Grund eines Meeres voller Verachtung und Hass in Einsamkeit zu ertrinken. Und meine Eltern? Ich liebe euch, auch wenn ihr durch eure Arbeit blind für mein Leid wart und auch sonst viel zu sehr mit euch selber beschäftigt, um zu merken, dass mit mir irgendwas nicht stimmt. Ich hoffe, dass mein Brief es euch erklären wird. All die Briefe.

      Die Gewässer sind heute besonders unruhig. Auf das fast pechschwarze Wasser fallen einige letzten Sonnenstrahlen und schimmern wie Blitze an der Oberfläche. Auch die Wärme auf meiner Haut hat nachgelassen. Ich fühle wie mein Körper abkühlt, gleichzeitig bin ich von Angstschweiß bedeckt. Unwillkürlich klammere ich mich ein wenig fester ans Geländer.

      Ich habs versucht. Ich habe es wirklich versucht. Anfangs war er unscheinbar, aber dann wurde er stärker. Und schließlich war der Schmerz mein stetiger Begleiter. Innerlich habe ich geschrien, immer öfter, immer lauter, doch niemand hat mich gehört. Gefangen in meiner persönlichen Hölle, suchte ich vergeblich nach einem Ausweg. Und dann passierte es.

      Meine Entrüstung, meine Wut und Machtlosigkeit flossen in Strömen und die Flut war nicht mehr zu stoppen. Das Fass war übergelaufen und als es sich geleert hatte, blieb nichts weiter als Gleichgültigkeit und emotionslose Stille zurück. In mir wurde es dunkel und stumm. Meine Gedanken höre ich seitdem nur noch in weiter Entfernung, als seien es nicht meine eigenen. Gleichgültigkeit und Kälte ummanteln mich.

      Ich zittere. Mein Blick gleitet über die mir vertraute Umgebung. Die Tannen, die mir in meiner Kindheit als Riesen, gekleidet in prachtvolle Kleider, erschienen, sind zu Zwergen geschrumpft und haben ihre Nadeln verloren. Das Vogelgezwitscher ist verstummt, als wüssten selbst die Vögel, dass ein Unheil naht. Inzwischen ist die Sonne untergegangen und langsam wird der Wald in einen Mantel aus Dunkelheit gehüllt.

      Seit Monaten lebe ich in Dunkelheit, eine Dunkelheit, die sich unscheinbar und leise in deine Seele schleicht und sie erbarmungslos zerfrisst, bis nichts mehr übrigbleibt. Sie lässt eine leere Hülle zurück, äußerlich makellos, doch der Schein trügt. Sie übernimmt dich und wenn du es bemerkst, ist es längst zu spät und der Kampf ist verloren. Alles scheint ohne Sinn, doch es gibt einen Ausweg. Einen Ausweg aus Allem - die Einbahnstraße der Ewigkeit entgegen, wo Frieden und Harmonie herrschen. Doch alles hat seinen Preis und dieser ist besonders hoch.

      Eine kühle Brise erfasst mein Gesicht. Ich atme sie ein. Erleichterung lässt meinen Körper aufbeben und plötzlich scheint alles so einfach.

      Ich werde ihn zahlen.

      Ein letztes Mal blicke ich auf die Uhr. 19:39. Auf Wiedersehen Welt.

      Langsam lösen sich meine Finger aus dem festen Griff, mit dem ich das kalte Metall umschloss. Es folgt ein Gefühl der Schwerelosigkeit und zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich Frieden und Ruhe. Erlösung.

      Ich lasse mich fallen, bis die schmerzhafte Unendlichkeit endlich endet.

      Kommentar: Schilderung eines trügerischen Auswegs.

       Isabelle Thier

       Lautloses Ertrinken

      Und wieder sind es nur Worte. Worte, die das kleine Herz wie ein Messer durchdringen. Die Augen füllen sich mit Tränen und weichen dem hasserfüllten Blick seines Gegenübers aus. Tränen laufen über seine Wangen, als es sich in die hinterste Ecke seines Zimmers verkriecht. Dort bleibt es sitzen. Die Arme um die Beine geschlungen. Leise. Ganz leise, damit es niemand hört. Es klopft an der Tür. Das Kind schreckt auf und bindet sich schnell seine zerzausten Haare zusammen. Die Tür geht auf. Es betrachtet schüchtern die Silhouette. Ein Lächeln ziert das runde Gesicht und ein freundlicher Blick lässt seine Augen aufleuchten, als wäre nichts gewesen. Doch was ist in ihm drin, ganz tief in seiner Seele? Es richtet sich auf und geht nach draußen. Wieder sind es nur Worte. Worte, die treffen. Worte, die Narben hinterlassen. Es senkt den Blick, damit niemand die Träne sieht, die ihm wie kurz zuvor über die Wange läuft.

      Rede, kleines Kind! Rede! Ich werde dich beschützen. Aber das Kind schweigt. Traurig sitzt es da. Die Hände unter dem Tisch im Schoß vergraben. Warum sagst du nichts? Sag etwas! Ich werde dir nichts tun. Aber das Kind schweigt. Es steht auf und geht. Bleib hier! Doch es hört mich nicht.

      Blass sieht es aus. Ganz blass. Nur die Lippen in einem zarten Rosa. Eingehüllt in einer weichen Decke liegt es auf seinem Bett. Steh auf! Steh auf und rede mit mir! Wo sind dein Mut, deine Hoffnung? Wo ist deine liebende Kraft, die nicht nur andere, sondern auch dich selbst schützt? Steh auf und geh mit mir. Geh mit mir bis ans Ende der Welt. Weil ich dich liebhabe. Los, steh auf! Aber das kleine Kind regt sich nicht. Steht nicht auf. Seine Hände sind kalt. Die Augen geschlossen. Friedlich sieht es aus.

      Kommentar: Rätselhaft, aber berührend.

       Annette Rümmele

       Autofahrt – romantisch

      „Komm, Amely, lass uns gehen!“ Jean stieß mich sanft in die Seite. „Bis zum Dessert haben wir doch tapfer durchgehalten, das reicht.“ Erstaunt und durchdringend schaute ich Jean an. Er wich meinem Blick aus und rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.

      „Komm, genug der Ehre für den alten Herrn. Wir verdrücken uns!“ Seit langem blitzten seine Augen wieder einmal jung und schelmisch in die Runde.

      „Okay“ – zwinkerte ich ihm zu und strich meinen kurzen Kostümrock glatt. Hastig standen wir gleichzeitig auf und fühlten uns sofort wie Bonnie und Clyde auf der Flucht.

      Erst in unserem alten Auto stellte Jean den CD-Player laut. Der Soundtrack von Forrest Gump ertönte. „Sweet Home Alabama…“ sangen wir kräftig aus voller Kehle. Jean fuhr schneller als gewöhnlich. In der Eile hatte ich meine Jacke im Restaurant hängen lassen. Egal, es gab kein zurück. Wir grölten, zunehmend befreit „If you´re going to San Francisco… Gentle people with flowers in their hair …

      Ich hatte Jean lange nicht mehr so ausgelassen und fröhlich erlebt. Schon während der Fahrt krempelte er seine Ärmel hoch, riss die Krawatte vom Kragen und gab Gas.

      „Wohin, Madame?“

      „Wohin du willst, Monsieur…“

      Wir waren beide schwer in die Jahre gekommen. In den fast vierzig Jahren unseres Zusammenlebens hatten sich bei Jean weiße Strähnen ins Haar geschlichen und ich lachte mittlerweile aus einem Meer von Fältchen im Gesicht.

      „Weißt du noch, wie wir mit den Kindern im VW-Bus durch die Provence gefahren sind?“

      „Klar, da haben wir oft Ougenweide gehört, diese Musik, die so gut zur Landschaft passte. Und Großmutter reagierte zutiefst beleidigt, weil wir ihren achtzigsten Geburtstag geschwänzt hatten. Schon damals waren mir diese Familienfeiern zuwider.“ Jean lachte befreit.

      „Amely“, fuhr er fort. „Ich möchte heute am liebsten nicht nach Hause fahren.“

      „Aber – !“

      „Psst, ich habe eine Idee. Hast du dein Handy dabei? Ruf Lea an. Sag ihr, wir machen morgen keinen Enkeldienst. Schließlich ist Wochenende. Ohne Diskussion.“

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