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spüre ich

      Mich

      Bin mir ganz nah

      Und verbinde

      Mich

      Mit dem

      Was verborgen liegt

      Dem wofür es keinen Namen gibt

      Der Mond

      Schweigt

      Hinter

      Schwarz und Grau

      Er schweigt

      Doch sein Antlitz

      Strahlt weise

      Bis zu mir herab

      Sowie die Lichter

      Pulsierend mich

      Mit der Gewissheit beschenken

      Alles ist gut

      Im Winter

      Wenn im Dunkeln

      Ich wandle

       Jochen Weeber

       Oskars erste große Rolle

      Weihnachten haben wir immer alle gemeinsam zuhause verbracht. Schon mein ganzes 28-jähriges Leben lang ist das so. Auch wenn wir längst nicht mehr alle unter einem Dach wohnen, an Heilig Abend hat nie einer von uns gefehlt. Während all der Jahre ist es in unserer Familie zu einem Ritual geworden, dass Mutter am 24. Dezember nach dem Abendessen durchzählt, ob wir auch vollzählig sind. Sobald die Küche gemacht ist, huscht jeder zunächst noch in irgendeines der Zimmer, um letzte Geschenke zu verpacken, ehe Vater schließlich einen tiefen Trompetenton durchs Treppenhaus schickt und ruft: „Der Abend ist uns heilig, drum kommet alle eilig! Bitte antreten zum Duuurchzählen!“ Es ist jedes Jahr das Gleiche: erst die Trompete, dann der Reim und das lange uuu. Ein uuu, bei dem wir Kinder früher wie johlende Apachen hinunter ins Wohnzimmer gestürmt sind, uns der Reihe nach aufgestellt und schließlich laut durchgezählt haben.

      Inklusive unserer Eltern sind wir übrigens zu sechst. Das heißt, wenn man den Christbaum mitzählt, sind wir zu siebt. Zumindest an diesem einen Abend im Jahr sind wir zu siebt, denn wir nehmen den Baum beim Durchzählen immer in die Mitte. Drei links, drei rechts, dazwischen die Tanne. Da Tannen nicht sprechen, muss einer von uns immer deren Part übernehmen und an der richtigen Stelle laut und deutlich sagen: „Vier!“.

      Mir gefällt diese Tradition. Und noch besser gefällt mir die Geschichte des eisigen Weihnachtsfestes 1986, als wir kurz nach Vaters Trompetenton im Wohnzimmer stehen und niemand laut und deutlich „Vier!“ sagt. An jenem Weihnachtsabend passierte an dieser Stelle nämlich einfach nichts.

      Oskar, der Jüngste und gerade in den Kindergarten gekommen, hatte unbedingt die Rolle der Weißtanne übernehmen wollen. Bereits Tage vorher freute er sich und übte fleißig vor dem Spiegel. Und dabei hat er das Wort „Vier“ mit Leben gefüllt, wie wohl kaum ein anderer auf der Welt! Noch heute passiert es mir oft, dass ich schmunzeln muss, höre ich irgendwo jemanden diese Zahl sagen. Ich habe dann im Kopf stets einen Kurzfilm laufen, in dem ein Vierjähriger im Bad steht und voller Hingebung seine Sprechübungen macht. Eine Weißtanne, Oskars erste große Rolle.

      Doch wie angedeutet: am Heiligen Abend des Jahres 1986 stand unser kleiner Bruder dann einfach nicht an seinem Platz. Als wir aufgeregt im Pulk die Treppe hinunter rannten, merkten wir noch

      nicht, dass jemand fehlte. Aneinander gereiht im wachsduftigen Wohnzimmer, blieb jedoch die Weißtanne stumm, und wir wussten, dass etwas nicht stimmte. Oskar war voller verrückter Ideen, aber man konnte ihn an so einem Abend auch nicht die ganze Zeit im Blick haben. Eilends durchsuchten wir das Haus. Wir brüllten in den Keller, wir klopften an Schranktüren und öffneten Bettkästen, wir schrieen in die Garage und in die Dunkelheit, und froren uns draußen auf der Straße die Ohren ab. Gut eine Viertelstunde war vergangen, als wir in der Einfahrt standen und ein paar Herzschläge lang schwiegen. Mitten hinein in dieses Schweigen hörten wir schließlich seine Stimme.

      „Pst!“, legte Mutter den Finger auf den Mund. Wieder Stille. „Oooskaaar!“, rief Vater – und dann rannten wir auch schon. Unserem Vater hinterher, den kleinen Fußweg hinab Richtung Sportplatz. An einer Laterne auf halber Strecke fanden wir ihn, wir sahen es, mit eigenen Augen, auch wenn einem das selten jemand glaubt: der kleine Oskar, mit der Zunge festgefroren am Laternenpfahl. Ein Anblick, den man nicht so leicht vergisst.

      Der Kleine gab sich tapfer, aber man konnte ahnen, dass er bis vor wenigen Augenblicken noch geweint hatte.

      „Schnell, geh’ den Fön holen! Los!“, drängte Mutter, „Und das 100 m lange Verlängerungskabel!“, rief meine Schwester, und ich wollte schon flitzen, ehe Vater intervenierte: „Stop! Nein! Nicht den Fön – die Kamera!“ Wir mussten lachen, und, daran erinnere ich mich noch genau: Oskar war der Erste, der lachte.

      Er starrte den Pfahl an und lachte. In meiner Erinnerung ist das immer ein besonderer Moment gewesen, denn mit einem Mal fielen uns allen ein paar Steine von den Herzen.

      Längst hatte Mutter ihn wärmend in den Arm genommen, ehe wir anderen uns um die Laterne schlangen, wie ein wollener Schal um einen Hals. Und während dieser Minuten, die wir so da standen, sagten wir ihm die ganze Zeit nette Sachen: Wir machten Komplimente, erzählten Witze und sangen schließlich haufenweise Weihnachtslieder. Und jeder von uns schickte ihm dabei soviel warmen Atem in die Mitte, wie er nur konnte. Voller Inbrunst sangen wir jener eisigen Naht entgegen, die unseren Oskar an die Laterne heftete. Bei der dritten Strophe von „Süßer die Glocken nie klingen“ war es dann soweit. Wir trällerten so laut und inbrünstig und wärmend, dass jeder Pfarrer seine helle Freude daran gehabt hätte, und während wir das taten, taute langsam das Eis zwischen Oskar und der Laterne. Mehr und mehr löste sich die kleine Zunge meines Bruders ab, bis er schließlich, von Jubel und Applaus begleitet, wieder frei war. Endlich. Wie er strahlte! Wie er die Hände in die Luft reckte! Wenig später trafen wir zuhause ein.

      Er erzählte uns, dass er „vorhin bloß kurz raus wollte, ein bisschen Schnee fürs Wohnzimmer holen“, dabei sei ihm die Idee mit der Laterne gekommen. Das hätte er mal probieren wollen.

      „Abgehakt“, sagte Vater, und presste das zweite Mal an diesem Abend einen langen, brummigen Ton aus seiner Trompete.

      Dann stürmten wir ins Wohnzimmer, stellten uns der Reihe nach auf und lauschten dem Einsatz der Tanne.

      Kommentar: Herzerfrischend.

       Jens-Philipp Gründler

       IHS

      Am kleinen Finger des elegant gekleideten Römers funkelt ein goldener, womöglich antiker Ring. Seit einer halben Stunde beobachte ich den aristokratisch wirkenden Herrn, denn er sitzt mir gegenüber, in der S-Bahn Richtung Ostia Lido.

      Der Siegelring hat es mir angetan, mühsam versuche ich herauszufinden, welches Emblem in das Edelmetall eingeprägt ist. In meinen Augen, in meiner Fantasie, handelt es sich bei dem in einem hochwertigen Leinenanzug steckenden Senior um einen Adeligen. Gestern traf ich ein ähnliches Exemplar auf dem Campo Verano, jenem von monumentalen Grabmälern gezierten Friedhof, wo Sergio Leone und Marcello Mastroianni, aber auch Bud Spencer ihre letzte Ruhestätte fanden. Bei jener Begegnung verhielt ich mich so wie heute, unauffällig. Katzen strichen um die Unterschenkel des alten Herren, der vor dem Sepulchrum des Kurienkardinals Camillo Laurenti kniete und mit verschlossenem Lippen Gebete murmelte.

      Mein Interesse gilt den Mitgliedern der römischen Adelsfamilien, die seit Jahrhunderten Kardinäle stellen und auch wichtige politische Posten bekleiden. Doch meine Vorliebe für diese vorzugsweise reptilienartig gealterten, nach Flieder duftenden Greise hat nur äußerliche Gründe.

      Wie scheue Schildkröten bevölkert der alte Adel die Ewige Stadt, seine Abgesandten trifft man zumeist in historisch bedeutsamen Kirchen oder eben auf den cimiteri der Metropole.

      In meinem bunten Gedankenreich sehe ich weinselige Bankette vor mir, wo klassisch gekleidete Herren auf mondäne

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