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Strumpf an die Tür. Morgens fand er den Strumpf schlaff an der Türklinke. Nur unten in der Spitze befand sich etwas.

      Heraus kam ein halbes knochentrockenes Brötchen. Tränen schossen ihm in die Augen, Tränen der Enttäuschung und Wut, dass man nicht in Wargienen geblieben sei. Von da an hing er nie wieder zu Nikolaus einen Strumpf an die Türklinke.

       Die zweite Flucht

      Noch vor Weihnachten packte Mutter alle Habseligkeiten. Sie müsse mit uns vor den Russen fliehen, weil Stiefvater bei der SS war. Sie fürchtete Konsequenzen, wenn das entdeckt würde. Zuvor entsorgte sie ihre in einem Tuch eingewickelte Pistole in einer Röhre, die beide Gräben einer Straße links und rechts miteinander verband. Das sollte später verhängnisvolle Folgen haben.

      Vater Heidmann brachte Fritz mit Mutter und Schwester auf einem Leiterwagen zur Grenze. Viele Jahre später erfuhr Fritz eine grausige Geschichte der hilfsbereiten Heidmanns: Vater Heidmann fand nach ihrer Flucht bei einer Grabenreinigung diese Pistole. Das wurde von jemandem beobachtet. Die Folge waren acht Jahre Zuchthaus in Bautzen. Er hatte sie abgesessen. Sechs Monate nach seiner Entlassung starb er.

      Die kleine Familie landete bei der zweiten Flucht in Baracken, voll mit andern Menschen, die über die Grenze nach Westen wollten. Qualvolle Tage voller Angst vergingen. Es stank, Hunger machte sich bemerkbar. Dann endlich ging es los über die Grenze am Harz in ein Lager der Engländer. Alle wurden von einem Arzt untersucht, desinfiziert und entlaust. Wenige Tage später ging es Fritz sehr schlecht. Abgemagert, schwach und fiebernd fand er sich zusammen mit fünf anderen Kindern im Zimmer eines Krankenhauses in Goslar wieder. Er hatte Diphterie. Jeden Tag starb eines der Kinder. Es gab täglich warme Milch mit Honig. Die Haut darauf ekelte ihn, aber er musste sie zu sich nehmen. Sie sei sehr wichtig, um wieder gesund zu werden.

      Auch seine Schwester wurde wie er mit Diphterie eingeliefert. Sie hatte es wohl nicht ganz so schlimm erwischt. Langsam kam Fritz wieder auf die Beine. Mutter kam und erklärte: „Wir werden heute von den Engländern abgeholt.“

      Die luden Mutter mit den Kindern zusammen mit anderen Menschen auf einen Militärlastwagen und fuhren stundenlang zum Teil über holprige Straßen.

       Flüchtlingskind auf einem norddeutschen Bauernhof

      Es war kalt. Schnee lag über dem fremden Land. Endlich hielt der Wagen vor der Hofeinfahrt eines Bauernhauses mit einem Reetdach und einem großen grünen Tor an der Giebelseite. Sie standen wie angewurzelt in einer Schneewehe. Fritz hatte Kniestrümpfe an. Seine Zähne klapperten vor Kälte. Da ging die Tür auf. Eine alte Frau mit Kopftuch und einer erhobenen Mistgabel schrie: „Haut ab, ihr Polacken!!“ Die Frau wurde von dem Jungbauern, Gott sei Dank, eingefangen. Sie durften über die Tenne an Kühen und Pferden vorbei ins Haus. Es war warm, Fritz bekam kein Wort heraus. Die Alte verlor er nicht aus den Augen. Sie bekamen ein Zimmer zugewiesen. Die Betten waren mit dicken Federkissen ausgestattet. Sie wärmten gut. Varenesch bei Goldenstedt im Südoldenburger Land, – bei einer Familie Huntemann war man gelandet.

      Mutter arbeitete als Magd auf dem Hof. Sie molk die Kühe, mistete den Stall aus und half im Haushalt. Fritz freundete sich mit Werner, dem Jungbauern, an. Seine Mutter hieß Tante Frieda, – eine warmherzige, sehr liebe Frau, sie ganz anders als die Altbäuerin, die sie so unfreundlich empfangen hatte. Sie durften in der Küche mit allen andern essen. Beeindruckend war das riesige viereckige Schwarzbrot. Zuerst wurde in der Mitte der Stirnseite des Brotes ein tiefer Schnitt gesetzt. Das Abschneiden der Scheiben erfolgte immer wechselseitig. Es schmeckte hervorragend. Ein so gewaltig großes Brot hatte Fritz noch nie gesehen. Die Sprache war aber so ganz anders. Das meiste verstand Fritz anfangs nicht. Der Südoldenburger Dialekt war so ganz anders als das ostpreußische Platt.

      Schlimm war nur, dort gab es eine Schule, und in die musste er. Viel lieber war er im Kartoffelfeld, um Kartoffelkäfer zu sammeln. Er fühlte sich bei den Bauern richtig wohl. Man hatte auch einen Trecker. Geheizt wurde mit Torf. So etwas hatte er auch noch nie gesehen. Im Frühjahr ging es ins Moor zum Torfstechen. Es gab braunen und schwarzen Torf. Der schwarze Torf war besonders gut zum Heizen geeignet. Er wirkte fast wie Kohle. Der Torf wurde kunstvoll gestapelt, damit er in der Sommerzeit trocknen konnte. Torfstechen war eine unglaublich schwere Arbeit. Einen Sommer verbrachte er in Varenesch. Die Ernte des Getreides, später der Kartoffeln, alles war so ähnlich wie in Ostpreußen. Sehr bald starb die Altbäuerin. Ihre Tochter – Tante Frieda – kümmerte sich liebevoll um Fritz, wohl auch, weil er tüchtig mit anfasste. Sie sah in ihm immer auch ihren zweiten Sohn, der im Krieg geblieben war. Jede Woche wurde frische Butter gestampft. In Spätherbst wurde aus den Zuckerrüben Sirup in einem großen Kessel gekocht. Schinken und Würste wurden geräuchert von einem schwarz geschlachteten Schwein. Schwarzschlachtungen waren streng verboten. Fritz lebte wieder auf. Er war 9 und gehörte bald zur Familie. Seit 1950 fuhr er jeden Sommer in den Schulferien nach Varenesch. Das waren für ihn glückliche Wochen.

      Was er nicht ganz verstand: Varenesch war evangelisch und Goldenstedt, 2 km weiter, katholisch. Man verkehrte nicht mit denen. Ja, es gab sogar wüste Schlägereien, wenn man aufeinander traf. Der Sohn der Familie – Werner – heiratete später ein hübsches Mädchen. Sie war ein Flüchtling, also keine „Einheimische“. Fortan wandte sich die gesamte Dorfgemeinschaft von den Huntemanns ab. Mariechen wurde dennoch von der Familie liebevoll aufgenommen und gegen alle Angriffe in Schutz genommen. Mariechen brachte zwei Jungen und eine Tochter zur Welt. Sie alle hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Aber die Sprachlosigkeit zwischen ihnen und der Dorfgemeinschaft hatte nie aufgehört. Sie waren und blieben demonstrativ ausgeschlossen.

      Als Fritz dies alles aus seinen Erinnerungen in der Weihnachtszeit 2019 hervorholte, wurden Dinge lebendig, vor denen er sich heute wieder fürchtet. Was geht bloß in den Köpfen so vieler Menschen vor, die Juden und Flüchtlinge wieder hassen und mit Tod bedrohen. Rechts- und Linksradikale bringen wieder aufgrund ihrer Ideologie Menschen um. Wie zu Hitlers Zeiten sitzen im Bundestag und den Landesparlamenten wieder Nazis, die sich bürgerlich geben, es aber nicht sind. Wie damals fangen sie an, die Institutionen zu unterwandern, die Bundeswehr, die Polizei, die Gemeindeverwaltungen und das öffentliche Leben. Vergessen? Sie geben vor, das christliche Abendland retten zu wollen, haben aber mit Jesus nichts am Hut.

      Vergessen? Jesus war schließlich Jude. Auch seine Eltern mussten kurz nach seiner Geburt mit ihrem Kind nach Ägypten fliehen, weil Herodes verfügt hatte, jeden Erstgeborenen zu töten. Die drei Weisen aus dem Morgenland hatten berichtet, dass den Juden ein König geboren sei. Diese Konkurrenz sollte beseitigt werden. Auch Jesus wurde also zum Immigranten.

      Im Nachkriegsdeutschland sollten Flüchtlinge ohne Obdach aus Ostpreußen mit einer Mistgabel vom Hof gejagt werden. Werner Huntemann wurde aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen, weil er ein Flüchtlingsmädchen heiratete. Man schlug aufeinander ein, weil man einer anderen Konfession angehörte.

      Heute wird auf Synagogen wieder geschossen und werden Deutsche jüdischen Glaubens angegriffen. Vielen ehemaligen Russlanddeutschen hatte Bundeskanzler Helmut Kohl die Übersiedlung nach Deutschland ermöglicht und ihnen enorm geholfen, in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Wer will das verstehen, wenn zu viele von ihnen jetzt rechtsradikalen Parteien hinterherlaufen und diejenigen verachten, die ihnen bereitwillig eine neue Heimat boten. Dabei steht es ihnen doch frei, wieder dorthin zu gehen, wo sie herkamen.

      Hass, Drohungen, und abgrundtiefe Verachtung werden hemmungslos verbreitet. Selbst vor Mord und Totschlag schreckt man nicht zurück, nicht nur begangen aus Hass gegen die Flüchtlinge von Heute, sondern besonders auch gegen Deutsche jüdischen Glaubens und Menschen, die sich für sie engagieren. Die Übergriffe sind alltäglich geworden.

      Fritz versteht das alles nicht mehr. Er versteht nicht die Justiz, die allzu milde Urteile erlässt, falls sie überhaupt ermittelt. Er versteht die Politiker nicht, die jedes Mal versprechen, mit der ganzen Härte des Gesetzes durchgreifen zu wollen. Was passiert? Meistens nichts. Die Richter begnügen sich allzu oft gerade mal mit Bewährungsstrafen. Schwupps, laufen die Täter wieder frei herum und machen diesen Staat auch noch lächerlich.

      Zorn und Trauer erfüllen Fritz heute. Es scheint sich zu wiederholen, was längst vergangen war.

       Fritz,

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