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war froh, eine Krankenschwester zu haben, die sich um die Verwundeten kümmern konnte. Nach wenigen Tagen hieß es: „Schwester, Sie müssen den Fliegerhorst verlassen. Wir haben keine Möglichkeit, Sie nach Berlin oder Potsdam zu bringen, weil wir kein Benzin mehr haben. Die Flugzeuge werden gesprengt. Wir können Sie nur noch an die Autobahn bringen.“

      Da stand sie nun mit den Kindern. Ein Auto war nicht zu sehen. Plötzlich nahte ein Kübelwagen der Wehrmacht mit einem Soldaten. Die Bremsen kreischten. „Rein, Schwester, schnell, schnell!“ Die Kinder saßen hinten auf einem MG und jeder Menge Munition und Großmutter vorne. Wie wild raste der Wagen die leere Autobahn entlang und erreichte schließlich den Bahnhof Erkner bei Berlin. Blitzschnell war der gute Mann verschwunden. Es war ein Deserteur. Großmutter stieg mit den Kindern in die S-Bahn und fuhr mit ihnen nach Potsdam, wo sie bis dahin zu Hause gewesen war. Sie wohnte in der Wilhelmstraße, nicht weit vom Schloss Sanssouci in einem wunderschönen Villenviertel. Dort war sie mit den Kindern in ihrem eigenen Zuhause.

      Sicherheit und Geborgenheit kehrten ein. Fritz ging oft zum Sommerschloss des Alten Fritz. Er soll ein großer König gewesen sein. Fritz war begeistert von den Geschichten, die man ihm über ihn erzählte. Schließlich tauchte eine freundliche Frau auf, von der es hieß, sie sei schon die Lehrerin von Vater und Onkel Dieter gewesen, Frau Papendick hieß sie. Auweh! Eine nette Frau, aber leider auch etwas streng. Sie unterrichtete Fritz. So richtig angenehm fand er das nicht. Sie war jedoch sehr geduldig und keineswegs bösartig.

      Eines Tages erschien Mutter. Rechte Freude wollte sich nicht einstellen. Sie hatte einen großen, stattlichen Mann an ihrer Seite. Er hatte schwarze, nach hinten gekämmte Haare. Sie habe ihn geheiratet und heiße jetzt Matysiak, Hans sei sein Vorname. Er wäre jetzt der neue Vater. Für die SS-Uniform und den ganzen Kerl empfand Fritz eine tiefe Abneigung. Dieser Mensch ignorierte seine Stiefkinder und behandelte sie wie Luft. Er erschien in den Augen von Fritz ziemlich arrogant und überheblich. So mochte er ihn von Anfang an nicht. Auch Großmutter war überhaupt nicht begeistert von diesem Typen. Mutter verschwand nach kurzer Zeit wieder, wohl zu den neuen Schwiegereltern. Als sie und der neue Mann weg waren, war die Luft irgendwie wieder rein.

      Eines Tages gab es Fliegeralarm. Nichts wie rein in den Keller. Bombeneinschläge waren zu hören. Angst machte sich breit. Nach Stunden gaben die Sirenen Entwarnung. Man konnte wieder raus. Die Angriffe wiederholten sich. Das war einmal so heftig, dass Putz von der Decke des Kellers fiel.

      Großmutter beschloss, mit den Kindern weiter nach Westen nach Bückeburg zu Freunden zu fahren. Die hießen Peitmann. Es waren sehr nette Menschen. Deren Haus lag ganz am Stadtrand und grenzte an eine große Wiese. In mehreren Erdlöchern war die Flak zur Luftabwehr positioniert. Fritz besuchte die Soldaten gerne. Eines Tages ging Fritz aus dem Haus, als es einen heftigen Schusswechsel gab. Fritz schmiss sich auf den Gehweg, dicht an die Gartenmauer gedrängt. Auf der Straße schlugen die Geschosse der Tiefflieger ein. Geschockt floh Fritz ins Haus. Zu den Soldaten ging er fortan nicht mehr.

      Nach einigen Wochen kam Mutter. Ihr Mann, der neue Vater, sei im Krieg vermisst. Das sollte im Baltikum passiert sein. Aber das stimmte nicht. Der war in Halbe im Brandenburgischen gefallen, wie sich später herausstellte. Er war dereinst von der Gruppe Canaris2 angeblich zur Waffen-SS strafversetzt worden, nachdem die Gruppe Canaris wegen Kontakten zum Widerstand bei Hitler in Ungnade gefallen war. Canaris wurde Anfang April 1945 von einem SS-Standgericht im Konzentrationslager Flossenbürg zum Tode verurteilt und gehängt. Die Gruppe wurde aufgelöst. Mutter war nun zum zweiten Mal Witwe geworden. Aber sie hatte auch ihren Vater wiedergefunden. Großvater Overkamp lebte bei einem Freund in der Altmark bei Osterburg. Mutter wollte in seiner Nähe sein und nahm die Kinder mit.

      2 Wilhelm Canaris (1887-1945) war bis 1944 Leiter des militärischen Geheimdienstes der Wehrmacht.

       Eine neue Katastrophe bahnt sich an

      Mai 1945. Mutter fand eine Unterkunft in Gladigau bei Osterburg in der Altmark (Sachsen-Anhalt, Landkreis Stendal). Sie bewohnte zwei Zimmer in einem Anbau eines Bauernhauses. Die Küche und die Toilette waren außerhalb des Wohnbereichs. Gekocht wurde auf einem Herd, den man mit Holz aufheizen musste. Den Großvater hatte Fritz in dieser Zeit nie gesehen. Er vermisste ihn auch nicht. Mutter war öfter bei ihm. Eines Tages rollten Panzer durch das Dorf, aus allen Fenstern hingen weiße Betttücher als Zeichen, dass man sich ergeben habe. Die Amerikaner hatten das Land besetzt. Mutter brachte von den Freunden ihres Vaters immer wieder etwas zu essen mit.

      Fritz ging in den nahen Wald, um Holz zu sammeln und es anschließend zu hacken, als Brennmaterial für den Kochherd. Eine Schule gab es nicht. Die hatte er auch nicht vermisst. Im Mai wurde er acht Jahre alt, seine Schwester war schon fünf.

      Mutter erklärte oft, sie wisse nicht, was sie zu Mittag machen könne. Sie habe nichts. Brot und etwas Margarine habe sie noch. Das ging immer öfter so. Sie war zunehmend traurig und hilflos.

      Beim Holzhacken passierte es. Das Beil traf seinen linken Zeigefinger. Das untere Gelenk sprang aus dem Knochen und hing an einem Hautlappen. Es blutete fürchterlich. Einen Arzt gab es nicht. Mutter nahm den abgetrennten Knochen, drückte ihn wieder in das Gelenk und schmierte ganz dick Lebertransalbe um den Finger. Die Schmerzen ertrug er unter Tränen. Täglich wechselte sie den Verband. Das Verbandmaterial schnitt sie aus einem ihrer Unterhemden. Tatsächlich wuchs das Fingerteil wieder an. Es bildete sich eine große Fingerkuppe. Diese Verunstaltung des Fingers ist bis heute geblieben und Zeugnis des damaligen Dramas.

      Immer öfter ging Mutter mit seiner Schwester in den Wald, um Beeren und Brennholz zu suchen. Fritz erbettelte sich bei Bauern etwas Milch. In der Zeit der Kartoffelernte ging Fritz über die abgeernteten Kartoffelfelder. Er fand immer genug übriggebliebene Knollen, die vergessen worden waren. Sein Beutel füllte sich ordentlich.

      Mutter wurde krank. Sie hatte hohes Fieber und Ruhr. Eine entsetzliche Situation. Es passierte ihr öfter, dass ihr Stuhlgang auf dem Weg zum WC verloren ging und sich auf dem Fußboden wiederfand. Manchmal ging das Ganze auch ins Bett. Fritz war verzweifelt. Mit Massen an Wasser sich selbst übergebend machte er die Fußböden sauber. Er wusch seine Mutter und sorgte für frische Bettwäsche. Mit der Hand versuchte er das Bettzeug zu waschen. Es gab auch nichts mehr zu essen. Hunger trieb ihn in den kleinen Kaufmannsladen, in dem ein paar Leute was auch immer einkauften. Fritz hatte gerade 10 Pfennige. Hinter ihm in einem Regal lag ein duftendes Brot. Blitzschnell griff er danach und wollte, so schnell er konnte, aus dem Laden raus, – vergeblich. Die Ladenbesitzerin zog ihn an den Ohren hinter den Tresen in einen kleinen Raum. „Was machst du da, warum tust du das?“

      Fritz zitterte am ganzen Körper. Weinend und schluchzend sagte er, dass Mutter sehr krank sei und man nichts mehr zu essen habe.

      Die Kaufmannsfrau hielt ihn fest an seinem Arm und wollte wissen, wo er wohnt. Sie ging ihn immer noch festhaltend mit ihm nach Hause. Was sie sah, erschütterte sie. Sie umarmte Fritz, half Mutter und sorgte für Essen. Es war eine gottesfürchtige Familie. Heidmann hießen sie.

      Mutter kam langsam wieder auf die Beine. Sie war anfangs sehr schwach und tat, was ihr möglich war. Irgendwoher trieb sie Lebertran auf. Davon nahm sie reichlich. Die Kinder bekamen auch täglich einen Teelöffel davon. Das Zeug schmeckte scheußlich.

      Mutter war mal wieder im Wald. Die Bauern riefen aufgeregt: „Die Russen kommen!“ Fritz alleine zu Hause überfiel eine unvorstellbare Angst, waren sie doch so viele Monate vor denen weggelaufen.

      Mutter hatte etwas Schmuck und eine Mappe mit wichtigen Papieren. Fritz nahm das alles samt einem Reisewecker und steckte es in den Aschekasten des Kachelofens.

      Vom Wohnzimmer aus gelangte man über vier Treppenstufen ins Schlafzimmer. Diese Treppe konnte man anheben und gelangte so in einen Keller. Fritz schloss den Einstieg über sich. Es war stockfinster. Er hockte vor Angst schlotternd in einer Ecke. Feuchtigkeit und Kälte krochen in ihm hoch. Keller und Haus bebten, als die Panzer ins Dorf fuhren. Er hörte Stimmen über sich und einige Schüsse. Dann wurde es ruhig. Er betete: „Lieber Gott, gib mir meine Mama wieder.“ Stunden vergingen. Plötzlich wurde angstvoll nach ihm gerufen. Fritz stieg aus dem Keller aus und fiel in die Arme seiner Mutter. Noch immer sorgten Heidmanns so gut sie konnten für Mutter und ihre zwei Kinder.

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