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aus Königsberg wieder, der sie in Wargienen betreut hatte. Der hatte sich ihrer angenommen und verhalf ihr 1947 zu einer Stelle als Heimleiterin in einer Unterkunft für Spätheimkehrer in Hannover. Die nächste Katastrophe zog auf.

      Die Familie, jedenfalls das, was noch von ihr da war, sorgte sich um die Zukunft von Fritz. Schule, Disziplin, Führung und bestmögliche Erziehung seien angesichts der bisherigen Entwicklung bei Mutter nicht gewährleistet. Jedenfalls glaubten alle, dass man anders für ihn sorgen müsse. Fritz war 10, als er in ein Kinderheim nach Gellenhar in Hessen kam. Das gehörte einer Käthe Benzler. Das Heim lag gut 2 km von der dortigen Schule entfernt und war fernab vom Dorf an einem Waldrand gelegen. Es gab fünf Heimkinder und bis zu zehn „Erholungskinder“.

      Der Tagesablauf der Heimkinder sah etwa so aus: Um 5: 30 Uhr aufstehen, waschen und Frühstück für alle bereiten. Abdecken, abwaschen und Betten machen. Dann ab in die Schule. Nach der Schule zuerst Mittag machen, Schularbeiten, Zimmer sauber machen, Holz sammeln und Unkraut zupfen.

      Jede Woche runter ins Dorf, mit einem Sack ausgerüstet, und dort um Kartoffeln betteln. Die wurden zumeist noch abends gekocht und im Flur auf einen hohen Schrank gestellt. Stellte man sich auf einen Stuhl, konnte man auf Zehenspitzen stehend an die gekochten Kartoffeln gelangen. Fritz hatte Hunger. Er wurde erwischt, als er abends ein paar Kartoffeln, die er selbst erbettelt hatte, aus der Schale nahm. Die Folge waren Prügel mit der Rückseite des gefürchteten Handfegers auf den nackten Po. Er bekam fortan vor dem Schlafengehen seine Arme in eine Pappröhre gesteckt. Die wurde so befestigt, dass man sie nicht abstreifen konnte. So sollte jeder weitere Diebstahl von selbst erbettelten und gekochten Kartoffeln verhindert werden. Er konnte seine Arme in diesen Pappröhren nicht beugen. Wenn der Kopf, die Nase juckten, musste er das aushalten.

      Waren nicht sorgfältig genug die Räume gereinigt worden, trat der verdammte Handfeger in Aktion. Care-Pakete kamen an. Die fünf Heimkinder gingen leer aus. Alles wurde auf die zehn Erholungskinder verteilt. Fritz war unglaublich traurig. Oft weinte er. Briefe an Mutter oder Großmutter, die er in den hauseigenen Postkasten warf, wurden abgefangen und nicht weitergeschickt. Es war ein Martyrium. Eines Tages fand er auf dem Heimweg von der Schule auf der Straße einen Briefumschlag mit einer Briefmarke, die er nicht kannte. Norge stand darauf. Fritz hob sie auf und bewahrte sie wie einen Schatz. Heute ist eine Sammlung von über 50.000 Briefmarken daraus geworden.

      Mutter erschien eines Tages. Fritz floh in ihre Arme und flehte sie unter einem Tränenstrom an: „Bitte, bitte, hol mich hier raus.“ Schluchzend berichtete er, wie es ihm ergangen war. Fritz war abgemagert und völlig verstört. Mutter nahm ihn noch am gleichen Tag mit. „Ich will wieder nach Wargienen, bitte, ich will wieder nach Wargienen.“

      Fritz kam für einige Zeit zu Mutter nach Hannover in das Übernachtungsheim.

      Man fand eine neue Lösung. Großmutter, die inzwischen in Bremen wohnte, nahm sich seiner wieder an. Sie fand über Beziehungen einen Platz im Landschulheim Holzminden. Fritz teilte sein Zimmer mit Christian Sträter. Sein Vater war wohl Kultusminister in NRW. Das Landschulheim war ein Internat und fing mit dem Gymnasium an. Fritz blühte dort wieder auf. Er musste aber zunächst täglich zur Volksschule etwa 2 km nach Holzminden, um den Sprung ins Gymnasium zu schaffen. Man zählte das Jahr 1948. Eines Tages traf er nach der Schule barfuß laufend, seine Schuhe in der Hand, einen Leierkastenmann. Fritz stellte die Schuhe ab. Dieser Leierkastenmann mit seiner Drehorgel berührte ihn. Er hörte verträumt zu. Im Internat angekommen merkte er, dass seine Schuhe beim Leierkastenmann stehengeblieben waren. So schnell er konnte, lief er zurück. Der Mann war weg, die Schuhe auch. Es war sein einziges Paar. Es dauerte fast vier Wochen, bis Großmutter neue Schuhe aufgetrieben hatte.

      Er kam damals aus der amerikanischen Besatzungszone. Dort wurde im Herbst versetzt. Holzminden gehörte zur britischen Zone. Dort wurde Ostern versetzt. Was kommen musste, kam. Fritz blieb sitzen, weil ihm ein Vierteljahr fehlte. Der Sprung ins Gymnasium war ausgeschlossen. Er musste das Landschulheim verlassen.

       Fritz will sein Leben beenden

      Wieder zogen Unwetter über Fritzens Leben. Ein neues Martyrium nahm seinen Lauf. Mutter, immer noch in Hannover, begann eine Ausbildung zur Justizwachtmeisterin. Sie tat Schichtdienst im Frauenuntersuchungsgefängnis am Raschplatz, das hinter dem Bahnhof mitten in der Stadt lag.

      Fritz kam zu einer Frau Kröschel nach Lutterberg in Südniedersachsen. Wer diese Frau aufgetan hat, blieb ihm bis heute verborgen. Lutterberg war ein damals kleines Dorf mit einer Schule. Den Lehrer Becker mochte er. Das Unglück wollte es: Die Frau hatte einen Gemüsegarten, einen großen Gemüsegarten mit reichlich Unkraut in den Beeten. Zimmer- und Toilettenreinigung waren wieder angesagt. Wenigsten prügelte die Kröschel nicht. Stubenarrest und Essensentzug waren ihre Erziehungsmethoden. Es gab nie ein gutes Wort. Der Sohn eines Gastwirts aus Hannover war sein Leidensgenosse. Sie teilten sich ein Zimmer. Später ging es zur Mittelschule nach Hannoversch Münden, dort, wo Werra und Fulda zusammenfließen und der Fluss von da an Weser heißt. Die Schule lag gegenüber der Forstakademie. Sein geliebter Onkel Dieter hatte dort Forstwirtschaft studiert. Er fühlte sich ihm da so nahe.

      Der Schulweg betrug 8 km, zu 70 % bergab. Zurück das Ganze noch einmal, jetzt bergauf. Das Tag für Tag zu Fuß. Im Winter in Kniestrümpfen. Lange Hosen hatte er nicht. Jeden Tag 16 km.

      Sein Leidensbruder konnte mit dem Bus fahren. Später kam heraus, dass Großmutter regelmäßig Geld für den Bus schickte und Mutters Schwester Geld für eine lange Hose. Beides kam nie bei ihm an. Oft mussten zahlreiche Einkäufe aus Hannoversch Münden mitgebracht werden. Eines Tages vergaß er, den bestellten Hering nach der Schule zu holen. „Zu Hause“ angekommen musste Fritz ohne Mittag gleich wieder umkehren und die 16 km noch einmal laufen. Verzweiflung stieg in Fritz auf. Zum Abendessen gab es diesen Matjeshering. Es würgte ihn. Um ihn nicht kauen zu müssen, schluckte er ihn einfach herunter. Das Unglück geschah, nach einer Weile kam das Zeug im hohen Bogen wieder raus. Unter Androhung von Schlägen sollte er das Erbrochene wieder essen. Fritz stand vom Tisch auf und lief nach draußen in einen nahen Heuschober.

      Er wollte nicht mehr leben. Er fühlte sich verlassen. Es wurde dunkel, niemand suchte nach ihm. Fritz beschloss, sein Leben zu beenden. Er fand rostigen Draht. Der ließ sich in kleine Stücke brechen und zu Krampen verbiegen. Er schluckte sie in der Hoffnung, dass das sein Ende herbeiführen würde. Das passierte aber nicht. Es muss ein Wunder gewesen sein. Morgens erschien er wieder. Wortlos wurde er zur Kenntnis genommen. Ohne Frühstück ging es zur Schule. Als er zurückkam, verkroch er sich in sein Bett, zog die Decke über den Kopf und weinte. Für Fritz stand fest: „Hier kann ich nicht bleiben.“

      Zu zweit machten sie sich auf den Weg. Beide wollten zu Fuß nach Hannover. Nach etwa 20 km in Hedemünden warteten sie vor einer Bahnschranke. Der Bahnwärter fragte sie: „Wohin wollt ihr?“ Unter Tränen erzählten sie ihm ihre Geschichte. Der Bahnwärter gab ihnen von seinem Mittagessen und rief die Polizei an. Die kamen und nahmen die Jungen auf die Wache mit. Frau Kröschel wurde angerufen, um die Jungen abzuholen. Sie kam mit einem Fahrrad. Die beiden mussten den ganzen Weg hinter dem Rad herlaufen. Abends gab es einen riesigen Topf Nudeln. Er sollte vollständig aufgegessen werden. Der Bauch schien zu platzen.

      Fritz war verzweifelt. Kurz danach begannen die Ferien. Mutter reiste mit dem Bus an. Fritz erwartete sie voller Hoffnung an der Haltestelle. Er ging davon aus, dass sie ihn in die Ferien abholen wollte. Sie stieg aus und hielt eine gewaltige „Gardinenpredigt“: „Es ist unglaublich, was du dir wieder geleistet hast.“ Sie habe dafür überhaupt kein Verständnis. Diese Sommerferien seien für ihn gestrichen. Sie gab ihm eine halbe Tafel Schokolade und stieg eine halbe Stunde später ohne Fritz wieder in den Bus ein. Weg war sie.

      Diesen Vorgang hat Fritz seiner Mutter nie vergessen. Es war etwas zerbrochen. Fritz ging ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und flehte Gott um Hilfe an: „Lieber Gott, ich habe gehört, dass es bei dir so schön sein soll. Bitte hole mich. Hier auf Erden mag mich keiner mehr. Ich bin so alleine.“

      Nachbarn wandten sich schließlich an Mutter. Sie schien nun doch entsetzt zu sein. Sie reiste an und nahm Fritz samt Schwester mit nach Hannover.

       Sein einziges schulisches Erfolgserlebnis

      Großmutter

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