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»Jessas, Fräulein Blandini, was ist denn? Was ist denn gescheh’n? Haben S’ was da vergessen? «

      »Leuchten Sie mir nur.«

      August stand hinter ihr.

      »Der Herr hat nichts da zu tun«, sagte die Blandini; »sperren Sie zu.«

      Sie stieß August zurück, schloß selbst die Tür, und der Portier versperrte sie. Während sie mit dem Portier durch den schmalen, niederen Gang eilte, der zur Bühne führte, fragte sie ihn: »Haben Sie den Roland weggehen sehen?«

      Der Portier dachte nach. »Ja, Fräulein, jetzt ist sicher niemand mehr in der Garderobe. Vor zwei Stunden hab’ ich schon zugesperrt.«

      »Haben Sie ihn weggehen gesehen?« wiederholte sie beinahe flehend.

      Sie standen nun auf der großen, dunklen Bühne. Von der Laterne, die der Portier in der Hand hielt, fiel ein Lichtkegel auf den weißen Souffleurkasten. Die Kulissen, zu beiden Seiten im Dunkel, schienen ins Unermeßliche hinaufzuwachsen. Der eiserne Vorhang stand da wie eine Riesenwand.

      »Ja … gesehen …« sagte der Portier. »… ich weiß mich wirklich nicht zu erinnern, ich bitt’ schön, Fräulein, es gehen da so viel Leut’ an einem vorbei, man schaut doch nicht einen jeden an; nicht wahr?«

      Die Blandini blieb noch einen Moment nachsinnend stehen, dann eilte sie rasch über die Bühne bis hinter die Kulissen, zu der kleinen Stiege. Sie setzte den Fuß auf die ersten Stufen.

      »Aber Fräulein«, rief der Portier, der ihr mit der Laterne nacheilte, »da ist ja die Herrengarderobe.«

      Sie antwortete nicht; sie eilte so rasch hinauf, daß sie oben plötzlich im Dunkel stand und auf den nachstolpernden Mann mit der Laterne warten mußte. Sie holte tief Atem. Als der Portier wieder bei ihr war, und ein schwacher Lichtschimmer den Gang erhellte, fragte sie: »Wo ist die Garderob’ vom Roland?«

      »Ja Fräulein, das weiß ich selber nicht, ich komme ja nie da herauf. Aber da oben sind die Namen angeschrieben.«

      Sie nahm ihm die Laterne aus der Hand und versuchte aufs Geratewohl, die erste Tür zu öffnen.

      »Fräulein, das geht nicht, s’ist ja zugesperrt. Die Herren

      sperren meistens zu beim Fortgehen. Und das ist ja gar nicht die von Herrn Roland. «

      Fräulein Blandini eilte weiter; bei einer Tür nach der andern hob sie die Laterne höher, um die Namen zu lesen. Endlich war sie bei der rechten. Ein weißer Bogen klebte dort; drei Namen standen darauf: Engelbert Brunn, Oswald Friedemann, Friedrich Roland. Sie griff nach der Türschnalle, aber auch diese Tür war verschlossen.

      Der Portier schüttelte den Kopf. »Schau’n S’, Fräulein, wenn Sie da drin was vergessen haben, da kommt ja nichts weg, morgen ist’s auch noch da.«

      »Sie… Sie…« wandte sich die Blandini an ihn, »der Roland ist ja nach dem zweiten Akte fertig, er muß doch früher fortgegangen sein als die anderen, da hätten Sie ihn doch sehen müssen?«

      »Ja, Fräulein, es ist möglich, daß ich ihn geseh’n hab, wie man halt einen sieht, aber ich weiß mich nicht zu erinnern.«

      Die Blandini blieb ein paar Augenblicke ratlos stehen. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie suchte in ihrer Tasche und atmete erleichtert auf. Vielleicht paßt er, flüsterte sie und hielt ihren eigenen Garderobeschlüssel in der Hand. Sie gab dem Portier die Laterne wieder zu halten, und hastig versuchte sie den Schlüssel. Er paßte. Sie drehte ihn ein-, zweimal im Schlosse um; sie drückte auf die Schnalle, die Tür ging auf. – Ihr gegenüber gerade am Fenster schien eine ungeheuer lange Gestalt zu lehnen. Es ist ein Kostüm, dachte sie im ersten Augenblick. Sie riß dem Portier die Laterne aus der Hand, hielt sie hoch, – schrie auf. »Um Gottes willen«, rief der Portier und stürzte zum Fenster hin. Es war, als stände Herr Friedrich Roland lebendig dort, seine Arme hingen schlaff herab, der Kopf fiel tief auf die Brust herab. Er war im Kostüme, das er abends getragen; sogar den falschen Schnurrbart hatte er noch; nur die Perücke war fort, und seine dünnen, straffen, grauen Haare starrten zerzaust.

      »Aufgehängt hat er sich«, stieß der Portier hervor … »aufgehängt.« Er stellte die Laterne auf das Tischchen zu den Schminktöpfen und der Perücke. Dann griff er nach den Händen des Toten und fuhr längs der Arme bis zum Hals hinauf … »Mit dem Schnupftüchel«, sagte er. »Ja, was sollen wir denn tun, Fräulein?«

      Die Blandini stand regungslos und starrte den Leichnam an.

      »Wissen Sie, Fräulein«, sagte der Mann, »ich werd’ vielleicht den Herrn von unten heraufholen, und ich geh’ unterdessen zur Polizei, die Anzeige machen.«

      Jetzt zuckte die Blandini leicht zusammen, dann antwortete sie leise: »Ja, geh’n Sie zur Polizei, ich bleib da … aber dem Herrn unten sagen Sie, er soll fortgehen, schnell fortgehen soll er, daß ich ihn nimmer seh’, sagen Sie ihm das, und wenn ich ihn noch unten treff’, sagen S’ ihm, spuck’ ich ihm ins Gesicht«.

      Die letzten Worte schrie sie so laut, daß der Portier zusammenfuhr und daß sie ihm noch in den Ohren gellten, als er im Dunkel über die leere Bühne lief.

       Mein Freund Ypsilon

       Inhaltsverzeichnis

      Aus den Papieren eines Arztes

      Wenn auf irgendein Menschenschicksal das Wort »Tragikomödie« passen mag, so ist es sicherlich das Schicksal meines nun verstorbenen Freundes Ypsilon, auf dessen Grab ich gestern wieder einen Kranz gelegt habe, einen Kranz aus Immortellen, in den ich auch etwelchen Lorbeer einflechten ließ. Denn meiner Ansicht nach hat kaum jemals ein Dichter ihn so sehr verdient als mein Freund Ypsilon – nicht wegen seines Genies, das kaum gegen alle Anfechtungen der Kritik sich hätte gefeit erweisen können, sondern wegen der großartigen Weise, in der ihm seine Kunst zu Herzen ging. Nimmer habe ich seinesgleichen gesehen, und mancher von den großen Poeten, die von der Mitwelt hoch gepriesen werden, könnte wohl hinausgehen auf den Währinger Friedhof und ein stilles Gebet verrichten an dem kleinen Kreuze, so die Inschrift trägt:

      HIER RUHT IN GOTT

       MARTIN BRAND

      Martin Brand, so hieß er mit seinem wahren Namen. Möge man sich nur nicht wundern, daß dieser Name, dessen Andenken ich so sehr verehre, keine besonderen Erfolge aufzuweisen hatte. Seine Gedichte, deren einige allerdings, mit »Y« unterzeichnet, in einem kleinen Salzburger oder Grazer Blättchen veröffentlicht wurden, ragten nicht sonderlich hervor, und auch bei mir, an den sich der Studiosus philologiae – dies war Herr Martin Brand im bürgerlichen Leben – zuweilen mit seinen geschriebenen Phantasien wandte, vermochte er selten eine wahrhaftige Aufmunterung oder Anerkennung zu finden.

      Aber wie die meisten jungen Dichter gab er wenig auf das Urteil derjenigen, denen seine Schreibereien nicht gefielen, und fühlte sich bei seiner Muse, die unsichtbar ihm stets zur Seite wandelte, so unendlich wohl, daß er bis zu einer gewissen Zeit zu den glücklichsten Menschen gehörte, die mir jemals begegnet sind. Allerdings war er manchmal trübselig; doch sicherlich nie wegen irgendeines mißlichen Zufalles, der ihm in dem verächtlichen Alltagsleben zugestoßen war, sondern nur, wenn sein Sinn sich mit einem recht traurigen Thema befaßte: wenn er an einem Drama arbeitete, in dem Königinnen an gebrochenen Herzen und Prinzen an einem gespaltenen Schädel starben, oder wenn er ein Märchen schrieb, in dem eine böse Fee aus angeborener Bosheit das Glück zweier braver Menschenkinder zu vernichten drohte. Dagegen war er wieder unbändig heiter, wenn er den Frühling besang oder eine Ballnacht, in welcher eine schöne Maske einen als reichen Nubier verkleideten Kunstakademiker auf den Mund küßte und nachher sagte: »Ja, du bist’s, und keiner soll dich mir rauben!«

      Hier aber, das steht unbestritten fest, fing schon der Wahnsinn meines Freundes Ypsilon an. Ich pflegte ihn auch zu ermahnen, ernstlicher als mancher andere: er solle nicht allzu enge Freundschaft mit seinen Schatten schließen, sondern sich auch im Leben ein bißchen

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