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MORT(E). Robert Repino
Читать онлайн.Название MORT(E)
Год выпуска 0
isbn 9783958354173
Автор произведения Robert Repino
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Während ihre Untertanen in Mund, Nase und Ohren des Bewusstlosen gekrabbelt waren, hatte die Verlorene höchstselbst den Körper erklommen. Auch Jahrtausende später konnte Hymenoptera auf diese Erinnerung zugreifen. Sie hörte, wie ihre Kiefer das Fleisch zerrissen, roch die offenen Kapillaren und vernahm den Duft des Eisens, der nach all der Zeit in steriler Erde so intensiv hervorströmte. Der Mann hatte sich gekrümmt und war reglos liegengeblieben.
Die Verlorene hatte Kundschafterinnen in die Stadt entsandt. Sie hatten gesehen, wie die Menschen einen Scheiterhaufen auf dem Altar eines Tempels entzündet und für die Befreiung von dieser Plage gebetet hatten. Mehrere Tage lang, während die Ameisen den Körper des Bauern aushöhlten, hatten sie Tiere im Feuer in der Hoffnung geopfert, das zu revidieren, was immer ihren Schöpfer enttäuscht hatte. Später, unzufrieden oder unsicher gegenüber der göttlichen Antwort, hatten sie begonnen lebendige Frauen und Kinder in den Flammen zu verbrennen. Sie hatten dabei gebrüllt und auf die Brust getrommelt wie die halbentwickelten Affen, die sie waren. Nichts zeigte den Ameisen die Verdorbenheit dieser Primaten mehr als ihre blutigen Rituale sowie die Gewalt und der Nihilismus, die damit einhergingen.
Schließlich waren die Stadttore aufgebrochen. Männer hatten sich mit Eimern voll öliger Flüssigkeit herausgewagt. Sie hatten Fackeln hineingetaucht, sie angezündet und sie ins Feld geschleudert. Nun waren die Ameisen in Panik geraten. Die Verlorene hatten einen weiteren Angriff befohlen, zuversichtlich, dass sie ein Exempel statuieren konnte, doch eine gut platzierte Fackel hatten den Vorstoß unterbunden. Sie hatte die menschliche Fähigkeit zur Selbstzerstörung unterschätzt. Nie war ihr die Möglichkeit in den Sinn gekommen, dass die Menschen ihre eigene Nahrungsversorgung vernichten würden, um den Tod eines Arbeiters zu rächen oder einer unsichtbaren Gottheit zu gefallen. Jegliche Zweifel, die sie an ihrer Grausamkeit gehegt haben mochte, waren verschwunden, als einer der Männer in seinem Eifer eine Fackel zu werfen versehentlich den brennbaren Schleim auf seine Tunika verschüttet und sich in Brand gesteckt hatte. In dem Glauben, dass es Teil des schleierhaften Fluchs gewesen war, der sie befallen hatte, hatten die anderen den Todgeweihten ins Feld gestoßen. Er war nach vorn in den sengenden Boden gestürzt und hatte sich in seiner Pein gewunden, bevor er gestorben war.
Die Ameisen waren gegeneinandergeprallt, als die Hitze der Umgebung gewachsen war. Bäuche platzten und die Opfer hatten hoffnungslos ihre Fühler auf der Suche nach Linderung oder zumindest neuen Befehlen geschwungen. Die Stärkeren hatten versucht über die Toten in Sicherheit zu klettern, nur um von brennender Flüssigkeit übergossen zu werden. Tausende chemische Sirenen waren ertönt. Die Duftspur, die den rettenden Weg wies, war verdampft. Die desorientierten Ameisen hatten ihr eigenes, kochendes Fleisch riechen können.
Besiegt und in der Annahme, dass ihre vermisste Königin tot war, waren die Überlebenden in ihre Katakomben zurückgekehrt. Es hatte keine Kommunikation mehr gegeben, keine beruhigenden Düfte voneinander, nur noch scheinbar wochenlanges Graben. Dann hatten sie ihre alten Tunnel erreicht und sich neu gruppiert.
Obwohl sie nie das Bedürfnis nach Mythen gehabt hatten, war in jener verzweifelten Stunde geboren worden, was einer Ameisenlegende am nächsten kam: die Außenseiterin.
Ein Arbeiterinnen-Team hatte die Katakomben nach Eiern durchsucht. Viele Kammern waren eingestürzt oder Temperaturschwankungen ausgesetzt gewesen, die die Brut unbrauchbar gemacht hatte. Unterdessen hatte ein anderes Team unter den Überlebenden eine temporäre Königin gesucht, da sich nur eine solche mit einer Drohne paaren und das gesammelte Sperma zur Befruchtung der Eier verwenden konnte. Nach drei Tagen waren sie auf eine Larvenkammer gestoßen, in der eine kränkliche Königin in all der Verwirrung die Paarung mit einigen Drohnen vollzogen hatte. Die Männchen lagen tot neben ihr, nachdem sie ihren Dienst für die Kolonie erfüllt hatten. Unter normalen Umständen wäre diese verräterische Königin verbannt worden, da sie außerhalb des jährlichen Paarungstages Sperma gesammelt hatte. Stattdessen begannen die Arbeiterinnen einige gesunde Eier in den neuen königlichen Hof zu transportieren. Ihre chemischen Signale hatten die Tunnel durchdrungen und gesagt: Macht den Weg frei.
Sogleich war die Außenseiterin zur Arbeit eingesetzt worden. Ihre erste Aufgabe hatte darin bestanden, mit dem Sperma der Drohnen produktive Weibchen zu züchten. Erschöpft und dem Tode nah, war sie an einen Punkt gekommen, an dem sie versuchte eines der Eier zu fressen, die sie vor sich abgelegt hatte. Die Arbeiterinnen hatten sie behutsam weggezogen und sie weiter angetrieben, bis sie genau in dem Moment zusammengebrochen war, als das letzte Ei befruchtet und die erste der neuen Königinnen geschlüpft war. Während die Außenseiterin im Sterben gelegen hatte, hatte die stärkste ihre Haut abgestreift und sich erhoben. Sie war größer als die anderen gewesen, eine beeindruckende Führerin, zu Höherem bestimmt. Die alte Königin hatte sich zu ihrer Tochter gebeugt und ihre Fühler hatten sich für die uralte Kommunikation ihrer Spezies berührt. Das erste chemische Signal, das die große Hymenoptera von ihrer Mutter erhalten hatte, lautete:
Du wirst unser Volk rächen,
mit dem Licht deiner Weisheit
und der Finsternis deines Herzens.
Du wirst jenseits der Sande und Meere reisen.
Du wirst Städte erbauen und Berge stürzen.
Du wirst nie den Duft deines Clans vergessen.
Du wirst die Welt mit deinen Kiefern packen,
während die Kreaturen auf zwei Beinen die Erde schlagen
und zum Himmel schreien.
Du wirst den Wilden auflauern.
Obwohl ihr Feuer dich verbrennen wird
und ihre Waffe dich zerschmettern werden,
wirst du emporsteigen; du wirst emporsteigen.
Und dann werden die Flüsse zu dir fließen.
Die Berge werden sich dir beugen.
Die Sonne wird um dich kreisen.
Die Geschöpfe der Erde werden dich verehren.
Die Winde werden dich vorwärtstreiben.
Du wirst emporsteigen.
Du wirst emporsteigen.
Bei jeder Alphatochter beendete Hymenoptera hier die Geschichte. Was danach geschah, gebührte ihrer alleinigen Erinnerung: Nach dem Empfang der ersten und letzten Nachricht ihrer Mutter, hatte die Königin den Kopf der Außenseiterin ergriffen, ihn abgerissen und gefressen, denn sie war ausgehungert und bereit zur Führung. Die Menschen hatten ihr Volk zu dieser Barbarei gezwungen. Sie hatten sie dazu gebracht, ihre eigene Mutter zu ermorden. All das würde enden. Ihr Volk würde sich erheben. Es gab keinen anderen Weg. Ermuntert durch das, was sie bezeugt hatten, hatten die Arbeiterinnen die übrigen Königinneneier vernichtet und ihre sterbenden Kolleginnen an Hymenoptera verfüttert, die vor Erschöpfung nicht mal mehr den Kopf heben konnten. Die neue Königin hatte sie verzehrt und mit ihren Fühlern die anderen überprüft, um herauszufinden, ob sie sich ihr widersetzten. Sie hatte ihnen damit auch eine Nachricht gesendet: Alles würde dem Wohle vieler geopfert werden. Das Schicksal ihres Volkes war es, zu erobern und zu herrschen. Eine neue Ära hatte begonnen.
An dieser Stelle griff Hymenoptera die Geschichte für ihre Alphasoldatinnen wieder auf. Sie teilte jene Legende, die erklärte, dass die Schreie der Gefallenen das angehäufte Wissen ihrer Spezies hervorgebracht und in ihren Kopf platziert hatten. Von diesem Moment an hatte sie einen Racheplan geschmiedet, dessen Ausführung Jahrtausende dauern sollte. Die Kolonie sollte Kenntnisse in derselben Art und Weise erwerben, wie Menschen Ressourcen und Land verschlangen. Die Ameisen würden eine Armee aus Kriegerinnen erschaffen, die größer, stärker und bösartiger waren als die blutrünstigsten Menschen. Sie würden alle Aspekte der menschlichen Existenz studieren und nutzen: Sprache, Gemeinschaft, Physiologie, Historik sowie Forschung und Religion, jene Antiwissenschaft, die Menschen entweder zu Größe oder Zerstörung animierte. Die Ameisen würden andere Clans dominieren und Kontakt mit fremden Spezies herstellen, die einen gemeinsamen Feind teilten. Die Kolonie hatte fortan ein Ziel jenseits des bloßen Überlebens. Ihre Subjekte dienten einem Zweck, betrachteten Geschichte linear, nicht länger kreisförmig. Wie ihr Feind erwarteten