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20 Platz gehabt hätten. Morgens aber fanden sich nur die sieben Mieter ein, deren Zusammensein dem Frühstück den Charakter einer Familienmahlzeit verlieh. Alle kamen in Pantoffeln herab und jeder erlaubte sich vertraulich Bemerkungen über Verhalten und Aussehen der auswärts wohnenden Gäste wie über die Ereignisse des verflossenen Abends, alles mit der ganzen Offenheit langer Bekanntschaft. Diese sieben Pensionäre waren die Lieblinge der Madame Vauquer, die ihnen mit mathematischer Genauigkeit ihre Bedienung je nach der Höhe des Pensionspreises zuteil werden ließ. Von diesem einzigen Standpunkt aus wurden die Wesen, die der Zufall hier zusammengeführt hatte, betrachtet. Die beiden Mieter der zweiten Etage zahlten nur 72 Francs im Monat. Dieser billige Preis, den man nur im Faubourg St-Marcel, zwischen der Bourbe und der Salpêtrière zahlt (und von dem nur Madame Couture eine Ausnahme machte), beweist, daß die Pensionäre sich mehr oder weniger offenkundig in einer unglücklichen Lage befinden mußten. Das trostlose Aussehen des Hausinneren wiederholte sich dann auch in der Kleidung seiner Gäste, die bei allen gleich abgerissen war. Die Männer trugen Überröcke, deren Farbe zweifelhaft geworden war, Schuhe, wie sie in den eleganten Vierteln in die Rinnsteine geworfen werden, zerschlissene Wäsche, kurz, eine Kleidung, die sozusagen in den letzten Zügen lag. Die Frauen erschienen in unmodernen, gefärbten und wieder ausgeblichenen Kleidern mit alten geflickten Spitzen, abgenutzten Handschuhen, gelblich gewordenen Halskrausen und ausgefransten Fichus. Im Gegensatz zu ihrer Kleidung waren jedoch die Pensionäre fast durchweg recht solid gebaut. Sie zeigten alle eine Konstitution, die den Stürmen des Lebens getrotzt hatte, kalte, harte Gesichter, die das Leben abgeschliffen hatte wie außer Kurs gesetzte Münzen. In welken Mündern zeigten sich gierige Zähne. Alle diese Pensionäre ließen frühere oder gegenwärtige Dramen ahnen, keine Dramen, wie sie sich im Rampenlicht und zwischen gemalten Kulissen abspielen, sondern wirkliche, stumme Dramen, Dramen ohne Pausen, die einem das Herz heiß machen, so kalt die handelnden Personen selbst auch sein mögen.

      Das alte Fräulein Michonneau trug über ihren ermüdeten Augen einen schmutzigen Schirm aus grünem Taft, zusammengehalten durch einen Messingdraht, der den Engel des Mitleids zum Entsetzen bringen konnte. Ihr Schal mit seinen dünnen jämmerlichen Fransen schien ein Skelett zu bedecken, so knochig waren die Formen, die er verbarg. Welche Säure konnte dieses Geschöpf seiner weiblichen Formen beraubt haben? Sie mußte einmal hübsch und ansehnlich gewesen sein: War es das Laster, war es der Kummer, war es die Begierde gewesen? Hatte sie zuviel geliebt? War sie Kleiderhändlerin gewesen oder Kurtisane? Büßte sie die Triumphe einer ausgelassenen Jugend, die die Freuden gesucht hatte, mit einem Alter, vor dem die Passanten auf der Straße flohen? Ihr glatter Blick ließ einen erschauern, ihre verkrüppelte Figur war eine Drohung. Sie hatte die schrille Stimme einer Grille, die in ihrem Busch das Nahen des Winters kündet. Sie erzählte, sie habe einen alten blasenkranken Herrn gepflegt, den seine Kinder verlassen hatten, weil sie ihn ohne Vermögen glaubten. Der Greis hatte ihr eine Leihrente von 1000 Francs vermacht, die immer wieder von den Erben, deren Schmähungen das alte Fräulein ausgesetzt war, angefochten wurde. Obwohl die Leidenschaften ihr Gesicht verwüstet hatten, fand man in ihm doch noch Spuren einer Feinheit des Gewebes und einer Zartheit, die vermuten ließ, daß ihr Körper noch einige Reste von Schönheit bewahrt hatte.

      Monsieur Poiret war so etwas wie ein lebender Mechanismus. Wenn man ihn in einer Allee des Jardin des Plantes promenieren sah wie einen grauen Schatten, auf dem Kopf eine alte platte Mütze, wie er kaum seinen Stock mit dem gelb gewordenen Elfenbeinknopf in der Hand halten konnte, wie die verblichenen Schöße seines Bratenrocks um ihn flatterten, mit seiner schlotternden Hose, in der die Beine zitterten wie die eines Betrunkenen, mit seiner schmutzigen weißen Weste und seinem schäbigen Brusttuch aus gewöhnlichem Musselin, das schlecht zu der Krawatte um seinen Truthahnhals paßte, so mochte sich mancher fragen, ob dieser Schattenriß zu der kühlen Rasse der Söhne Japhets gehörte, von denen der Boulevard des Italiens wimmelt. Was für ein Beruf hatte ihn so runzlig gemacht? Welche Leidenschaften hatten seinen jede Karikatur übertreffenden Zwiebelkopf geprägt? Was mochte er gewesen sein? Vielleicht Beamter im Justizministerium, in dem Büro, das die Rechnungen der Henker zu erledigen hat, die Kosten der Augenbinden für die zum Tode verurteilten Mörder, der Kleie für die Körbe, die die Köpfe der Guillotinierten aufnehmen, der Schnur für das Fallbeil? Vielleicht war er Kassenbeamter am Tor eines Schlachthauses gewesen oder Unterinspektor der Gesundheitspolizei. Auf jeden Fall mußte dieser Mann einer der Lastesel unserer großen sozialen Mühle gewesen sein, einer jener Pariser Ratons, die ihre Bertrands nicht einmal kennen, einer der Zapfen, um die die Strudel des Elends und des Schmutzes kreisen, einer von den Leuten, bei deren Anblick man sagt: es muß wohl auch solche Menschen geben. Das schöne Paris weiß nichts von diesen Figuren, die moralische oder körperliche Leiden blutleer gemacht haben. Aber Paris ist ein wirklicher Ozean. Wirft man das Senkblei aus, so wird man niemals seine Tiefe ermessen können. Man mag Paris durchlaufen und beschreiben: Welche Mühe man sich auch dabei gibt, so zahlreich und so sorgfältig auch die Erforscher dieses Meeres sein mögen, immer wird man auf eine unbekannte Stelle stoßen, auf eine unentdeckte Höhle, auf Blumen, Perlen, Ungeheuer, auf irgend etwas Unerhörtes, das die literarischen Taucher vergessen haben. Das Haus Vauquer ist eine dieser seltsamen Monstrositäten.

      Zwei Gestalten bildeten einen auffallenden Kontrast zu den übrigen Pensionären und Stammgästen. Mademoiselle Victorine Taillefer hatte zwar die krankhafte Blässe junger bleichsüchtiger Mädchen, und obwohl sich auch auf ihren Zügen das Leid malte, das den Grundzug dieses Gemäldes ständigen Jammers bildet: ihr Gesicht war nicht alt, ihre Bewegungen und ihre Stimme lebhaft, trotz ihrer ärmlichen Art und ihrer scheuen Zurückhaltung. Dieses junge Unglückswesen glich einem Baum mit verwelkten Blättern, den man in ein widriges Gelände verpflanzt hat. Ihr zarter Teint, ihr rötlich-blondes Haar, ihre zierliche Figur hatten die Grazie, die die modernen Dichter in den Statuetten des Mittelalters entdecken. Ihre dunkelgrauen Augen sprachen von Sanftmut und christlicher Resignation, ihre einfachen, billigen Kleider verrieten jugendliche Formen. Sie war hübsch, wenn man sie mit ihrer Umgebung verglich. In glücklicherer Lage wäre sie sicher reizend gewesen: Das Glück ist die Poesie der Frauen, wie die Toilette ihre Schminke ist. Wenn die Freuden eines Balles ihren Rosenschimmer über dieses bleiche Gesicht gebreitet hätten, wenn die Annehmlichkeiten eines eleganten Lebens diese schon leicht eingefallenen Wangen gerundet und getönt hätten, wenn diese traurigen Augen von der Liebe belebt worden wären, so hätte es Victorine mit den schönsten jungen Mädchen aufnehmen können. Es fehlte ihr das, was die Frauen zum zweiten Male zur Frau macht, der Putz und die Liebesbriefe.

      Ihre Geschichte hätte den Stoff zu einem Roman liefern können. Ihr Vater glaubte Gründe zu haben, sie nicht als rechtmäßig anzuerkennen, und wollte sie nicht in seinem Hause behalten. Er gewährte ihr nur 600 Francs jährlich und hatte seine Besitztümer zu barem Geld gemacht, um alles seinem Sohn zu hinterlassen. Madame Couture, eine entfernte Verwandte – bei ihr war die Mutter Victorines vor Verzweiflung gestorben –, nahm sich der Waise wie ihres eigenen Kindes an. Unglücklicherweise besaß die Witwe des Zahlmeisters der republikanischen Armee nur ihr Witwengeld und ihre Pension. So mußte sie also vielleicht einmal dieses arme Mädchen ohne Kenntnisse und Hilfsquellen mittellos zurücklassen. Die gute Frau führte Victorine alle Sonntage zur Messe und alle 14 Tage zur Beichte, um auf jeden Fall ein frommes Mädchen aus ihr zu machen. Sie hatte recht. Die religiösen Empfindungen boten diesem verlassenen jungen Menschen eine Zuflucht. Sie liebte ihren Vater, jedes Jahr ging sie zu ihm, um ihm zu sagen, daß ihre Mutter ihm verziehen habe. Aber alle Jahre harrte sie vergebens vor der unerbittlich verschlossenen väterlichen Tür. Ihr Bruder, der einzig mögliche Vermittler, hatte sie nicht ein einziges Mal in vier Jahren besucht und sandte ihr keinerlei Unterstützung. Sie betete zu Gott, er möge ihrem Vater die Augen öffnen und das Herz ihres Bruders erweichen. Sie betete für beide, ohne sie anzuklagen. Madame Couture und Madame Vauquer fanden nicht genug Schimpfworte, um dieses barbarische Verhalten zu brandmarken. Wenn sie den niederträchtigen Millionär schmähten, fand Victorine nur sanfte Worte, ähnlich dem Ruf der verwundeten Ringeltaube, deren Schmerzensschrei noch Liebe ausdrückt.

      Eugen de Rastignac war ein richtiger Südfranzose mit weißem Teint, schwarzen Haaren und blauen Augen. Benehmen, Manieren und Haltung ließen ihn als Sohn einer vornehmen Familie erkennen, in der man von Kindheit an und auf Tradition auf guten Geschmack Wert legt. Wenn er mit seiner Kleidung sparsam war, wenn er an gewöhnlichen Tagen seine alten Anzüge auftrug, so konnte er doch auch manchmal als eleganter junger Mann gekleidet auftreten.

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