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sterbe. Gegen Morgen vernahm sie mit Bestimmtheit einen schrecklichen Aufschrei. Sofort kleidete sie sich an und lief leichtfüßig hinauf zum Zimmer des Cousins, dessen Tür nicht verschlossen war. Der Tag graute. Die Kerze in der Leuchterdille war niedergebrannt. Charles, den der Schlaf übermannt hatte, schlief angekleidet im Lehnstuhl; sein Kopf war zur Seite auf das Bett gesunken; er träumte lebhaft, wie Leute träumen, die einen leeren Magen haben.

      Eugénie konnte nach Herzensbedürfnis weinen; sie konnte das junge schöne Antlitz betrachten, das in Schmerz erstarrt war, die vom Weinen geschwollenen Augen, die noch im Schlaf Tränen zu vergießen schienen.

      Charles empfand unwillkürlich die Anwesenheit Eugénies; er öffnete die Augen und sah sie mit dem Ausdruck tiefster Rührung vor sich stehen.

      »Verzeihung, liebe Cousine«, sagte er. Er hatte offenbar keine Ahnung, wieviel Uhr es war und wo er sich befand.

      »Es gibt hier Herzen, lieber Cousin, die Ihren Schmerz hören und ihn verstehen, und wir glaubten, Sie hätten vielleicht irgend etwas nötig. Sie müssen sich niederlegen; Sie ermüden nur in so unbequemer Lage.«

      »Sie haben recht.«

      »Also folgen Sie meinem Rat. Auf Wiedersehen.«

      Sie eilte davon, beschämt und dennoch glücklich, nach ihm gesehen zu haben, Nur die Unschuld ist so verwegen. Die Tugend, die wissende Tugend ist berechnend wie das Laster. Eugénie, die sich in Gegenwart des Cousins ganz sicher gefühlt hatte, konnte sich, als sie nun wieder in ihrem Stübchen war, kaum auf den Beinen halten. Die Einfalt ihres Daseins hatte plötzlich ein Ende genommen; sie sann und prüfte, sie machte sich tausend Vorwürfe: ›Was wird er von mir denken? Er wird glauben, ich liebe ihn.‹ Gerade das war es, was sie am liebsten gesehen hätte. Die Liebe ist eine suggestive Kraft und weiß, daß Liebe Liebe erweckt. Welch ein Ereignis für das einsame junge Mädchen, so verwegen bei einem jungen Mann eingetreten zu sein! Gibt es nicht in der Liebe Gedanken und Handlungen, die für gewisse Seelen einem heiligen Verlöbnis gleichkommen?

      Eine Stunde später trat sie bei ihrer Mutter ein und half ihr, wie gewöhnlich, beim Ankleiden. Dann setzten sie sich beide auf ihren Platz am Fenster und erwarteten Grandet mit jener Unruhe und Angst vor einer Szene, vor Strafe, die das Herz erstarren läßt oder heiß macht, es zusammenkrampft oder ausdehnt, je nach Temperament verschieden. Selbst die Haustiere beweisen uns, daß Angst den Schmerz verdoppelt: sie schreien bei dem geringfügigsten Schmerz einer Züchtigung und schweigen, wenn sie sich selbst eine empfindliche Wunde beibringen. Der Biedermann kam herunter, aber er sprach nur ein paar zerstreute Worte mit seiner Frau, küßte Eugénie und – setzte sich zu Tisch; er schien seine Drohungen vom gestrigen Abend vergessen zu haben.

      »Was macht mein Neffe? Der Junge ist nicht übertrieben aufdringlich.«

      »Er schläft, Monsieur«, sagte Nanon.

      »Um so besser, da braucht er keine Wachskerze«, sagte Grandet scherzhaft.

      Diese seltsame Milde, diese bittere Heiterkeit überraschten Madame Grandet; sie blickte ihren Gatten besorgt an. Der Biedermann – hier mag die Bemerkung angebracht sein, daß in der Touraine, in Anjou, in Poitou und in der Bretagne die Bezeichnung ›Biedermann‹, die hier schon häufig Grandet zuteil wurde, sowohl für die rohesten wie für die gütigsten Menschen Anwendung findet, sobald sie ziemlich bejahrt sind; die Bezeichnung hat mit Sanftmut oder Redlichkeit der Person durchaus nichts zu tun – nahm also wieder seinen Hut und seine Handschuhe und sagte: »Ich werde auf den Marktplatz spazieren und sehen, ob ich unsern Cruchots begegne.«

      »Eugénie, dein Vater hat entschieden etwas im Sinn.«

      So war es. Grandet, der kein Langschläfer war, widmete oft die halbe Nacht den Kalkulationen, die seinen Ansichten, seinen Plänen ihre erstaunliche Sicherheit verliehen und ihnen stets Erfolg verschafften, worüber die Saumuraner sich immer von neuem wunderten. Alle menschliche Macht ist ein Resultat von Zeit und Geduld. Die mächtigen Leute wollen und wachen. Das Leben des Geizhalses ist eine beständige Übung aller menschlichen Kräfte im Dienste des Ichs; es stützt sich auf nur zwei Empfindungen: Eigenliebe und Gewinnsucht. Aber da Gewinnsucht in manchem Sinne die gesunde und wohlberechtigte Eigenliebe verkörpert, so sind Eigenliebe und Gewinnsucht zwei Teile eines Ganzen: des Egoismus. Von daher rührt vielleicht das außergewöhnliche Interesse, das geschickt in Szene gesetzte Geizige erregen. Jeder Geizhals hält die Leute am Fädchen, die sich allen menschlichen Regungen hingeben, und nutzt sie aus. Wo ist der Mensch, der keine Wünsche hätte, und wo der Wunsch, der ohne Geld zu erfüllen wäre?

      Grandet hatte wirklich etwas im Sinne, wie seine Frau sich ausdrückte. Er hatte wie jeder Geizhals ein beständiges Bedürfnis, anderen einen Streich zu spielen, ihnen auf unanfechtbare Weise ihr Geld abzugewinnen. Ist es nicht ein Machtbeweis, andere zu überlisten; sich das Recht zu nehmen, alle die zu vernichten, die so schwach sind, sich ausrauben zu lassen? Oh, wer kennt nicht das Lamm, das friedlich zu Füßen Gottes ruht, das rührendste Symbol aller Geopferten auf Erden, ihrer Zukunft, das Zeichen, daß Duldung und Schwäche am Ende verherrlicht werden? Dies Lamm – der Geizhals läßt es sich auffüttern, Fett ansetzen, er mästet es, schlachtet es, brät es, verzehrt es – und verachtet es. Die Nahrung der Geizigen besteht aus Geld und Verachtung. Während der Nacht hatten die Gedanken des Biedermanns eine andere Richtung angenommen: daher seine Milde. Er hatte einen Plan ausgeheckt, um den Parisern einen Streich zu spielen, sie zu würgen und zu kneten, sie kommen, eilen, schwitzen, hoffen, erbleichen zu lassen, damit er, der frühere Böttcher, in seinem grauen Saale, auf der morschen Treppe seines Hauses in Saumur sich über sie lustig machen könne. Er hatte sich mit seinem Neffen befaßt. Er wollte die Ehre seines verstorbenen Bruders retten, und es sollte weder ihm noch seinem Neffen einen Sou kosten. Da er überdies seine Gelder für drei Jahre hinaus festlegen wollte und ihm nichts mehr zu tun blieb, als seine Güter zu verwalten, so bedurfte sein boshafter Tätigkeitsdrang neuer Nahrung, und die hatte er nun im Bankrott seines Bruders gefunden. Da er keinen in Händen hatte, den er zermalmen konnte, wollte er zugunsten Charles' die Pariser zerstampfen und sich so auf billige Weise als guter Bruder zeigen. Die Ehre der Familie hatte mit seinen Absichten so wenig zu schaffen, daß sein guter Wille nur verglichen werden kann mit dem Bedürfnis des Spielers, ein Spiel gut gespielt zu sehen, auch wenn er nicht dabei beteiligt ist. Und dazu brauchte er die Cruchots; aber er wollte sie nicht aufsuchen, sondern er hatte beschlossen, sie zu sich kommen zu lassen und noch am selben Abend die Komödie einzuleiten, deren Plan er heute nacht ausgeheckt hatte. Dann würde er am andern Tage für ganz Saumur ein Gegenstand der Bewunderung sein – und es würde ihn keinen Centime kosten.

      Während der Abwesenheit des Vaters genoß Eugénie das Glück, sich nach Herzenslust mit dem vielgeliebten Cousin beschäftigen zu können. Ohne Bangen schüttete sie den ganzen Schatz ihres Mitgefühls über ihn aus. Mitgefühl – das ist die einzige Überlegenheit der Frau, die einzige, die sie gern fühlen lassen will, die einzige, die sie dem Mann verzeiht, wenn er sich dabei ertappen läßt. Drei- oder viermal ging Eugénie und lauschte auf die Atemzüge des Cousins, horchte, ob er schlief; ob er erwachte. Dann, als er aufstand, widmete sie ihre Sorgfalt dem Rahm, dem Kaffee, den Früchten, den Tellern und Gläsern, kurz allem, was auf den Frühstückstisch kommen sollte. Leichtfüßig stieg sie auf der alten Treppe umher, um den Geräuschen zu lauschen, die aus der Stube des Cousins kamen. Kleidete er sich an? Weinte er noch? Sie schlich zur Tür.

      »Lieber Cousin?«

      »Liebe Cousine?«

      »Wollen Sie unten im Saal frühstücken oder in Ihrem Zimmer?«

      »Wo Sie wollen.«

      »Wie geht es Ihnen?«

      »Liebe Cousine, ich bin beschämt – ich habe Hunger.«

      Diese Unterhaltung durch die Tür erschien Eugénie so interessant wie eine Episode in einem Roman.

      »Dann wollen wir Ihnen also das Frühstück heraufbringen, um den Vater nicht zu verdrießen.«

      Fröhlich wie ein Vogel schwebte sie zur Küche hinunter.

      »Nanon, geh und bring sein Zimmer in Ordnung.«

      Die so vielbenutzte alte Treppe, auf der man alle Geräusche im Hause vernehmen konnte, hatte für Eugénie alle müde Altersschwäche verloren; ihr schien

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