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war, gingen sie alle beide hinauf, um dem Unglücklichen Gesellschaft zu leisten. Gebot nicht die christliche Barmherzigkeit, ihm Trost zu spenden? Die beiden Frauen wußten aus ihrer Religion allerlei Sophismen zu ziehen, um ihre Handlungsweise vor sich selbst zu rechtfertigen. Charles Grandet sah sich also als den Gegenstand innigsten und zärtlichsten Sorgens. Sein kummerschweres Herz fühlte dankbar die Süße der sanften Freundschaft, der tiefen Sympathie, die diese beiden stets unterdrückten Seelen zu entfalten wußten – nun, da es Leid zu lindern galt und sie es darum wagen durften, frei aufzuatmen.

      Infolge ihrer Verwandtschaft mit Charles hatte Eugénie den Mut, seine Wäsche zu ordnen und seine Toilettengegenstände auszubreiten. Nun konnte sie nach Gefallen die kostbaren Sächelchen bewundern, die silbernen und goldenen Kleinigkeiten, die ihr in die Hände fielen und die sie lange und innig betrachtete. Charles sah nicht ohne tiefe Rührung die offenherzige Teilnahme, die Tante und Cousine ihm entgegenbrachten; er kannte die Gesellschaft von Paris zur Genüge, um zu wissen, daß er in seiner jetzigen Lage dort nur gleichgültige und kalte Herzen getroffen hätte. Eugénie erschien ihm in allem Glanz ihrer eigenartigen Schönheit, er bewunderte nun die Unschuld und Reinheit ihres Wesens, über die er sich am Abend vorher lustig gemacht hatte. Und als jetzt Eugénie aus den Händen Nanons den mit Rahmkaffee gefüllten irdenen Topf nahm, um den Cousin eigenhändig zu bedienen, und ihm dabei einen lieben Blick zuwarf, da füllten sich die Augen des Parisers mit Tränen; er ergriff ihre Hand und küßte sie.

      »Oh, was haben Sie nur?« fragte sie. »Tränen der Dankbarkeit«, erwiderte er.

      Eugénie wandte sich hastig zum Kamin und ergriff den Leuchter. »Nanon, hier, nimm das weg«, sagte sie.

      Als sie sich dem Cousin wieder zuwandte, war sie wohl noch sehr rot, aber ihre Blicke konnten wenigstens lügen und verrieten nicht die unaussprechliche Freude, die ihr Herz durchflutete. Doch beider Augen sprachen dasselbe Empfinden aus, gleichwie beider Seelen in dem nämlichen Gedanken hinschmolzen: die Zukunft gehörte ihnen. Diese süße Regung war um so köstlicher für Charles, als sie ihm inmitten seines unendlichen Kummers ganz unerwartet kam.

      Ein Schlag an das Haustor rief die beiden Frauen auf ihre Plätze zurück. Glücklicherweise konnten sie schnell genug hinuntereilen und schon über der Arbeit sitzen, als Grandet eintrat. Wäre er ihnen in der Vorhalle begegnet – es hätte nicht mehr bedurft, um seinen Argwohn zu erregen.

      Nach dem Frühstück, das der Biedermann im Stehen einnahm, erschien der Feldwächter von Froidfond, dem die versprochene Entschädigung für seinen Freundschaftsdienst noch immer nicht verabfolgt worden war; er brachte einen Hasen, ein paar im Park geschossene Rebhühner, ein paar Aale und zwei Hechte, welche die Mühlpächter zu liefern hatten.

      »He, he! Der arme alte Cornoiller, er kommt ja sehr gelegen. – Ist das schon eßbar, wie?«

      »Jawohl, Monsieur, vor zwei Tagen geschossen.«

      »Vorwärts, Nanon, nimm die Füße in die Hand!« rief der Biedermann. »Hier, nimm die Sachen und mach uns ein Mittagessen; ich habe zwei Cruchots eingeladen.«

      Nanon riß die Augen auf und blickte von einem zum andern. »Wohl, wohl«, sagte sie; »aber wo nehme ich Speck her und Gewürz?«

      »Liebe Frau«, sagte Grandet, »gib Nanon sechs Francs und erinnere mich daran, daß ich in den Keller gehe und meinen guten Wein heraufhole.«

      »Und dann, Monsieur Grandet«, begann der Feldwächter, der eine Rede vorbereitet hatte, um die Frage seiner Entschädigungssumme zu einem Abschluß zu bringen, »und dann, Monsieur Grandet . . .«

      »Ta ta ta ta!« fiel ihm Grandet ins Wort, »ich weiß schon, was du sagen willst. Du bist ein Satanskerl! Wir werden das morgen erledigen, heute habe ich alle Hände voll zu tun. – Liebe Frau, gib ihm hundert Sous« wandte er sich an Madame Grandet.

      Damit räumte er das Feld. Die arme Frau war überglücklich, für elf Francs den Frieden erkaufen zu können. Sie wußte, daß Grandet vierzehn Tage friedlich war, nachdem er ihr so, Stück für Stück, das Geld wieder abgenommen hatte, das er ihr geschenkt hatte.

      »Hier! Cornoiller«, sagte sie und drückte ihm zehn Francs in die Hand. »Eines Tages werden wir deine Dienste belohnen.«

      Cornoiller wußte nichts zu erwidern. Er ging.

      »Madame Grandet«, sagte Nanon, die ihre schwarze Haube aufgesetzt und ihren Korb genommen hatte, »ich brauche nur drei Francs, behalten Sie den Rest. Lassen Sie, lassen Sie, das genügt vollständig.«

      »Mach uns ein gutes Essen, Nanon, mein Cousin wird auch herunterkommen«, sagte Eugénie.

      »Sicherlich, es geht etwas ganz Besonderes vor«, bemerkte Madame Grandet. »Das ist seit unserer Hochzeit das drittemal, daß dein Vater ein Diner gibt.«

      Gegen vier Uhr, als Eugénie und ihre Mutter mit dem Auflegen der Gedecke für sechs Personen soeben fertig geworden waren und der Hausherr einige Flaschen seines ›Allerbesten‹ heraufgeholt hatte, den die Leute in der Provinz sorgsam hüten, trat Charles in den Saal. Der junge Mann war blaß. Seine Bewegungen, seine Miene, seine Blicke und der Ton seiner Stimme waren von einer anmutigen Trauer. Er markierte nicht den Leidenden, er litt tatsächlich, und der sanfte Schleier des Kummers, den der Schmerz über sein Antlitz gebreitet hatte, gab ihm das interessante Aussehen, das den Frauen so gefällt. Eugénie liebte ihn darum noch mehr. Vielleicht auch hatte das Unglück ihn ihr nähergebracht. Charles war ihr nun nicht mehr der reiche und schöne junge Mann, der in einer ihr unzugänglichen Sphäre lebte, sondern ein Verwandter, über den ein entsetzliches Elend hereingebrochen war. Elend schafft Gleichheit. Die Frauen haben eins mit den Engeln gemein: die Leidenden gehören ihnen! Charles und Eugénie verstanden einander mit den Augen und redeten zueinander mit den Augen. Da es aus war mit seinem Dandytum, setzte sich der arme Verwaiste in einen Winkel und verhielt sich schweigend und zurückhaltend. Aber Minute um Minute leuchtete der sanfte, liebkosende Blick seiner Cousine zu ihm hinüber und bat ihn, von seinen traurigen Gedanken abzulassen, sich mit ihr in der weiten Flur der Hoffnung und der Zukunft zu ergehen.

      Zur selben Zeit war die Stadt Saumur in gewaltiger Aufregung über das Diner, das Grandet den Cruchots geben wollte – in noch gewaltigerer Aufregung, als sie gestern gewesen war, als er seine Ernte verkauft hatte, trotzdem das ein schweres Verbrechen an seinen Berufsgenossen gewesen war. Hätte der politische Weinbauer sein Diner aus denselben Gründen veranstaltet, die seinerzeit dem Hunde des Alkibiades den Schwanz kosteten – er wäre vielleicht ein großer Mann gewesen. Aber er fühlte sich der Stadt, über die er sich fortwährend lustig machte, viel zu überlegen – er rechnete nicht mit ihr.

      Die des Grassins erfuhren bald den plötzlichen Tod und vermutlichen Bankrott von Charles' Vater. Sie beschlossen, gegen Abend ihren geschätzten Kunden aufzusuchen, um ihm ihre Teilnahme und Freundschaft zu beweisen und nebenbei die Gründe zu erforschen, die ihn veranlaßt haben konnten, anläßlich dieses Ereignisses die Cruchots zum Diner einzuladen.

      Pünktlich um fünf Uhr erschienen der Präsident de Bonfons und sein Onkel, der Notar – bis an die Zähne sonntäglich gekleidet. Die Gesellschaft setzte sich zu Tisch und begann damit, gehörig zuzulangen. Grandet war ernst, Charles schweigsam, Eugénie stumm, und Madame Grandet sprach nicht mehr wie immer; so wurde dieses Diner tatsächlich ein Kondolenzmahl. Als man sich erhob, sagte Charles zu Onkel und Tante: »Erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe! Ich habe eine große und traurige Korrespondenz zu erledigen.«

      »Nur zu, Neffe!«

      Als er gegangen war und der Biedermann annehmen durfte, daß er außer Hörweite und in sein Schreiben vertieft sei, warf er seiner Frau einen bösen Blick zu: »Madame Grandet, was wir zu reden haben, ist Latein für Sie; es ist halb acht, ihr könntet verschwinden. – Gute Nacht, meine Tochter.«

      Er küßte Eugénie, und die beiden Frauen verließen das Zimmer. Nun begann die Szene, in der Vater Grandet mehr als in irgendeinem andern Augenblick seines Lebens sich die Geschicklichkeit zunutze machte, die er sich im Handelsverkehr erworben hatte und die ihm oft von Seiten der Leute, denen er gar zu sehr das Fell zauste, den Beinamen ›Alter Hund‹ einbrachte. Wenn der Bürgermeister von Saumur seinerzeit seinen Ehrgeiz höher geschraubt hätte, wenn glückliche Umstände ihn in die höchste Sphäre der Gesellschaft hätten

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