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ewig sind, müssen stets erst das Gelände säubern. Wer nun seinen Stein für das Gebiet des Denkens herbeiträgt, wer einen Mißbrauch kennzeichnet, wer das Schlimme mit einem Merkmal versieht, damit es ausgemerzt werde, der gilt stets als ›unmoralisch‹. Der Vorwurf der Unmoralität, der keinem mutigen Schriftsteller je erspart blieb, ist übrigens der letzte, der noch übrigbleibt, wenn man einem Dichter nichts mehr zu sagen hat. Wenn er in seinen Schilderungen wahr ist, wenn er vermöge täglicher und nächtlicher Arbeit dahin gelangt, daß er die schwerste Sprache der Welt zu schreiben versteht, so wirft man ihm das Wort ›unmoralisch‹ ins Gesicht. Sokrates war unmoralisch, Jesus war unmoralisch; beide wurden im Namen der Gesellschaft, die sie umstürzten oder reformierten, verfolgt. Wenn man jemanden töten will, so beschuldigt man ihn der Unmoral. Dieses den Parteien vertraute Verfahren ist eine Schmach für die, die es anwenden. Luther und Calvin wußten genau, was sie taten, als sie sich der Verletzung materieller Interessen wie eines Schildes bedienten! Daher haben sie auch ihr Leben zu Ende leben können.

      Wenn ich die ganze Gesellschaft kopierte, wenn ich sie in der Unendlichkeit ihrer Gärungen zu fassen suchte, so war es unausbleiblich, daß die eine Dichtung mehr des Bösen als des Guten bot, daß jener andere Teil des Freskos eine schuldbeladene Gruppe darstellte: und die Kritik schreit über Unmoral, ohne auf die Moralität eines dritten Teils aufmerksam zu machen, der bestimmt war, den vollständigen Gegensatz darzustellen. Da die Kritik von dem Gesamtplan nichts wußte, so verzieh ich ihr um so leichter, als man die Kritik so wenig wie das Auge, die Zunge und die Urteilskraft hindern kann, sich zu betätigen. Außerdem ist der Zeitpunkt der Unparteilichkeit für mich noch nicht gekommen. Im übrigen darf ein Autor, der sich nicht darein fügen kann, daß er das Feuer der Kritik wird zu ertragen haben, so wenig schreiben, wie ein Reisender sich auf den Weg machen darf, wenn er auf einen ewig heiteren Himmel zählt. In dieser Hinsicht muß ich nur noch darauf hinweisen, daß die gewissenhaftesten Moralisten sehr daran zweifeln, ob die Gesellschaft so viele gute Handlungen aufweisen kann wie schlechte; in dem Gemälde aber, das ich entwerfe, finden sich mehr tugendhafte Persönlichkeiten als tadelnswerte. Schmähliche Handlungen, Fehltritte und Verbrechen finden von den leichtesten bis zu den schwersten stets ihre menschliche oder göttliche Strafe, die sie vor aller Welt oder im geheimen ereilt. Ich habe mehr getan als der Historiker, ich bin freier. Cromwell blieb hier auf Erden ohne andere Züchtigung als die, die ihm der Denker auferlegte. Und selbst die ist noch von Schule zu Schule strittig gewesen. Selbst Bossuet hat diesen großen Königsmörder geschont. Der Usurpator Wilhelm von Oranien, Hugo Capet, noch ein Usurpator, sterben hochbetagt, ohne mehr Argwohn oder Besorgnisse durchzumachen als Heinrich IV. und Karl I. Das Leben Katharinas II. und das Ludwigs XIV. würden, einander gegenübergestellt, gegen jede Moral sprechen, wenn man sie nämlich vom Standpunkt jener Moral aus beurteilt, die die Bürger regiert; denn für die Könige und die Staatsmänner gibt es, wie Napoleon gesagt hat, eine große und eine kleine Moral. Die »Szenen aus dem politischen Leben« sind auf diesem schönen Gedanken aufgebaut. Die Geschichte untersteht nicht wie der Roman dem Gesetz des Strebens nach der idealen Schönheit. Die Geschichte ist oder sollte sein wie die Wirklichkeit, während der Roman nach dem Ausspruch der Madame Necker, eines der vornehmsten Geister des letzten Jahrhunderts, »die bessere Welt« sein soll. Aber der Roman wäre ein Nichts, wenn es in dieser erhabenen Lüge nicht die Wahrheit im einzelnen gäbe. Walter Scott war, da er sich den Begriffen eines wesentlich heuchlerischen Landes anpassen mußte, soweit das Menschliche in Betracht kommt, unwahr in der Schilderung der Frau; denn seine Vorbilder waren Schismatiker. Die protestantische Frau hat kein Ideal. Sie kann keusch, rein und tugendhaft sein, aber ihre Liebe, die keine Überschwenglichkeit kennt, wird stets ruhig und geordnet bleiben wie eine erfüllte Pflicht. Es könnte scheinen, als habe die Jungfrau Maria den Sophisten, die sie aus dem Himmel verbannten, sie mitsamt ihren Schätzen des Erbarmens, das Herz kalt gemacht. Im Protestantismus bleibt der Frau nach dem Fehltritt keinerlei Möglichkeit mehr, während in der katholischen Kirche die Hoffnung auf Vergebung sie erst erhaben macht. Deshalb gibt es für den protestantischen Schriftsteller nur eine einzige Frau, während der katholische Schriftsteller in jeder neuen Lage eine neue Frau entdeckt. Wäre Walter Scott Katholik gewesen, hätte er es sich zur Aufgabe gemacht, in aller Wahrheit die verschiedenen Gesellschaften zu schildern, die sich in Schottland gefolgt sind, so hätte vielleicht der Maler Effies und Alices (der beiden Charaktere, die geschildert zu haben er sich in seinen alten Tagen zum Vorwurf machte) die Leidenschaften mit ihren Fehltritten und ihren Strafen und mit den Tugenden, die die Reue ihnen zuweist, anerkannt. Die Leidenschaft umfaßt alles Menschliche. Ohne sie wären die Religion, die Geschichte, der Roman und die Kunst nutzlos.

      Manche Leute sind, als sie sahen, wieviel Tatsachen ich anhäufte und genau so schilderte, wie sie sind, nämlich mit der Leidenschaft als Triebfeder, auf den Gedanken gekommen, und zwar sehr zu Unrecht, ich gehörte zu der sensualistischen oder materialistischen Schule, die beide nur zwei Seiten einer und derselben Anschauung bedeuten: des Pantheismus. Aber vielleicht konnte man, mußte man sich täuschen. Ich teile, soweit es sich um Gesellschaften handelt, den Glauben an einen unendlichen Fortschritt nicht; ich glaube an den Fortschritt des Menschen über sich selbst hinaus. Jene, die bei mir die Absicht bemerken wollen, den Menschen als ein fertiges Geschöpf zu betrachten, sind also in einer merkwürdigen Täuschung befangen. Seraphita, die in Handlung umgesetzte Lehre des christlichen Buddha, scheint mir eine genügende Antwort auf diese übrigens ziemlich oberflächliche, anderswo erhobene Beschuldigung.

      In gewissen Fragmenten dieses langen Werkes habe ich versucht, die erstaunlichen Tatsachen, ich kann wohl sagen: die Wunder der Elektrizität zu popularisieren, die sich beim Menschen in eine unberechenbare Kraft umsetzen; aber worin stören die Phänomene des Gehirns und der Nerven, die das Dasein einer neuen moralischen Welt beweisen, die gewissen und notwendigen Beziehungen zwischen den Welten und Gott? Wieso würden dadurch die katholischen Dogmen erschüttert? Wenn das Denken eines Tages durch unbestreitbare Tatsachen unter die Fluida eingereiht wird, die sich nur durch ihre Wirkungen offenbaren und deren Wesen sich unseren Sinnen entzieht, wenn sie auch durch noch so viele mechanische Hilfsmittel unterstützt werden, so wird es damit gehen wie mit der Kugelgestalt der Erde, die Kolumbus entdeckte, oder mit ihrer Drehung, die Galilei nachwies. Der tierische Magnetismus, mit dessen Wundern ich mich seit 1820 vertraut gemacht habe, die schönen Forschungen Galls, des Nachfolgers Lavaters, und all derer, die seit fünfzig Jahren das Denken erforschten, wie die Optiker das Licht erforscht haben (und beide Dinge sind ja fast das gleiche), beweisen sowohl für die Mystiker, jene Schüler des Apostels Johannes, wie für alle großen Denker, die die übersinnliche Welt aufgebaut haben, jene Sphäre, in der sich die Beziehungen zwischen dem Menschen und Gott offenbaren.

      Wenn man den Sinn dieser Dichtung recht erfaßt, so wird man erkennen, daß ich den ständigen, täglichen, geheimen oder offen zutage liegenden Tatsachen, den Handlungen des individuellen Lebens, ihren Ursachen und ihren Prinzipien die gleiche Bedeutung beilege, die bisher die Historiker den Ereignissen des öffentlichen Lebens der Nationen beigelegt haben. Die unbekannte Schlacht, die in einem Tal der Landschaft l'Indre Madame de Mortsauf der Leidenschaft liefert, ist vielleicht nicht minder groß als die berühmteste der bekannten Schlachten (Die Lilie im Tal). In der einen steht der Ruhm eines Eroberers auf dem Spiel; in der anderen handelt es sich um den Himmel. Das Unglück der Birotteaus, des Priesters und des Parfumeurs, ist für mich das der Menschheit. Die Fosseuse (im ›Landarzt‹) und Madame Graslin (im ›Dorfpfarrer‹) sind mir fast die ganze Frau. Wir leiden so jeden Tag. Ich habe hundertmal tun müssen, was Richardson nur einmal getan hat. Lovelace hat tausend Gestalten, denn die soziale Verderbtheit nimmt die Farben all der Umgebungen an, in denen sie sich entwickelt. Clarissa dagegen, jenes schöne Bildnis der leidenschaftlichen Tugend, zeigt Linien von verzweifelter Reinheit. Um viele Jungfrauen zu schaffen, muß man ein Raffael sein. Die Literatur ist vielleicht in dieser Hinsicht der Malerei unterlegen.

      Es war keine kleine Aufgabe, die zwei- oder dreitausend markanten Gestalten einer Zeit zu schildern; denn diese Summe von Typen enthält schließlich jede Generation, und auch die ›Menschliche Komödie‹ wird sie umfassen. Diese Anzahl von Gestalten, von Charakteren, die Fülle von Existenzen verlangte Rahmen und, man verzeihe mir den Ausdruck, Galerien. Daher die so natürlichen, schon bekannten Einteilungen meines Werkes in Szenen aus dem Privatleben, aus dem Provinzleben, aus dem Pariser Leben, aus dem Leben der Politik, aus dem Soldatenleben und dem Landleben. In diese sechs Bücher sind all die Sittenstudien verteilt, die die allgemeine Geschichte der Gesellschaft

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