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enthielte und in einem kühn gespannten Bogen von den unheimlichsten, undurchsichtigsten Mysterien (Une passion dans le désert) durch ein strotzendes Chaos aller Menschlichkeiten zur seelenhaftesten Engelsliebe sich hinüberschwänge, würde das eine berühmte Buch gleichen Namens, das wir besitzen und das von der Hand eines Meisters ist, durch die Größe seiner Konzeption, durch den Umfang seiner Skala in den Schatten stellen. Aber schließlich existiert dieses Lexikon. Es ist in eine Welt von Gestalten, in ein Labyrinth von Begebenheiten versponnen, und man blättert darin, indem man dem Faden einer prachtvoll erfundenen Erzählung folgt. Der Weltmann wird in diesen Bänden die ganze Reihe der so scheinhaften und doch so wirklichen Situationen umgewandelt sehen, aus denen das Soziale besteht. Die tausend Nuancen, wie Männer und Frauen einen anderen gut und schlecht behandeln können; die unmerklichen Übergänge; die unerbittlichen Abstufungen, die ganze Skala des wahrhaft Vornehmen, zum Halbvornehmen, zum Gemeinen: dies alles abgewandelt und in der wundervollsten Weise vom Menschlichen, vom Leidenschaftlichen durchbrochen und für Augenblicke auf sein Nichts reduziert. Der Mensch des Erwerbs (und wer hat nicht zu erwerben oder zu erhalten oder zu entbehren?) hat seine ganze Welt da: alles in allem. Den großen Börsenmann, den verdienenden Arzt, den hungernden und den triumphierenden Erfinder, den großen und kleinen Faiseur, den emporkommenden Geschäftsmann, den Heereslieferanten, den Geschäfte vermittelnden Notar, den Wucherer, den Strohmann, den Pfandleiher, und von jedem nicht einen, sondern fünf, zehn Typen, und was für welche! und mit allen ihren Handwerksgriffen, ihren Geheimnissen ihrer letzten Wahrheit. Die Maler halten unter sich die Legende aufrecht, daß von Delacroix herrühren müsse, was im »Chef d'œuvre inconnu« an letzten Intimitäten über die Modellierung durch das Licht und den Schatten gesagt ist; diese Wahrheiten sind ihnen zu substantiell, als daß jemand sie gefunden haben dürfte, der nicht Maler, und ein großer Maler gewesen wäre. Der Denker, dem man »Louis Lambert« in die Hand gegeben hat, als die Monographie über einen Denker, mag den biographischen Teil schwach finden und an der Realität der Figur zweifeln: aber sobald er zu dem in Briefen und Notizen übermittelten Gedankenmaterial kommt, so wird die Konsistenz dieser Gedanken, die substantielle Kraft dieses Denkers so überzeugend, daß jeder Zweifel an der Figur weggeblasen ist. Dies sind Gedanken eines Wesens, dies Hirn hat funktioniert, – man mag im übrigen die Gedanken, diese Philosophie eines spiritualistischen Träumers ablehnen oder nicht. Und der verheiratete Mann, dem in einer nachdenklichen Stunde die »Physiologie der Ehe« in die Hand fällt, wird in diesem sonderbaren und vielleicht durch einen gewissen halbfrivolen Ton unter den Werken Balzacs ein wenig deklassierten Buch auf einige Seiten stoßen, deren Wahrheiten so zart als tief und beherzigenswert sind, wahrhafte Wahrheiten, Wahrheiten, die sich, wenn man sie in sich aufnimmt, gewissermaßen ausdehnen und mit einer sanften, strahlenden Kraft im Innern fortwirken. Allen diesen Wahrheiten haftet nichts Esoterisches an. Sie sind in einem weltlichen, manchmal in einem fast leichtfertigen Ton vorgetragen. Verflochten unter Begebenheiten und Schilderungen, bilden sie die geistigen Elemente im Körper einer Erzählung, eines Romans. Sie sind uns entgegengebracht, wie das Leben selbst uns seinen Gehalt entgegenbringt: in Begegnungen, in Katastrophen, in den Entfaltungen der Leidenschaften, in plötzlichen Aussichten und Einsichten, blitzhaft sich auftuenden Durchschlägen durch den dichten Wald der Erscheinungen. Hier ist zugleich die leidenschaftlichste und vollständigste Malerei des Lebens und eine höchst überraschende, scharfsinnige Philosophie, die bereit ist, jedes noch so niedrig scheinende Phänomen des Lebens zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. So ist durch das ganze große Werk, dessen Weltbild ebenso finster ist als das Shakespeares, und dabei um so viel wuchtender, trüber, schwerer durch seine eigene Masse, dennoch eine geistige Lebendigkeit ergossen, ja eine geistige Heiterkeit, ein tiefes Behagen: wie wäre es anders zu nennen, was uns, wenn einer dieser Bände uns in die Hand gerät, immer wieder nach vorwärts, nach rückwärts blättern macht, nicht lesen, sondern blättern, worin eine subtilere, erinnerungsvolle Liebe liegt, – und was uns die bloße Aufzählung der Titel dieser hundert Bücher oder das Register der Figuren, die in ihnen auftreten, gelegentlich zu einer Art von summarischer Lektüre macht, deren Genuß komplex und heftig ist, wie der eines geliebten Gedichtes?

      Die Aufhäufung einer so ungeheuren Masse von substantieller Wahrheit ist nicht möglich ohne Organisation. Die anordnende Kraft ist ebensosehr schöpferische Kraft als die rein hervorbringende. Vielmehr sind sie nur verschiedene Aspekte einer und derselben Kraft. Aus der Wahrheit der Myriaden einzelner Phänomene ergibt sich die Wahrheit der Verhältnisse zwischen ihnen: so ergibt sich eine Welt. Wie bei Goethe fühle ich mich hier in sicherem Bezug zum Gesamten. Ein unsichtbares Koordinatensystem ist da, an dem ich mich orientieren kann. Was immer ich lese, einen der großen Romane, eine der Novellen, eine der phantastisch-philosophischen Rhapsodien, und ob ich mich in die Geheimnisse einer Seele vertiefe, in eine politische Abschweifung, in die Beschreibung einer Kanzlei oder eines Kramladens, niemals falle ich aus diesem Bezug heraus. Ich fühle: um mich ist eine organisierte Welt. Es ist das große Geheimnis, daß diese lückenlos mich umschließende Welt, diese zweite, gedrängtere, eindringlichere Wirklichkeit nicht als eine erdrückende Last wirkt, als ein Alp, atemraubend. Sie wirkt nicht so: sie macht uns nicht stocken und starren, sondern ihr Anblick gießt Feuer in unsere Adern. Denn sie selber stockt nicht, sondern sie ist in Bewegung. Infinitis modis, um das Kunstwort mittelalterlicher Denker zu brauchen, ist sie in Bewegung. Die Welt ist in dieser vollständigsten Vision, die seit Dante in einem Menschenhirn entstand, nicht statisch, sondern dynamisch erfaßt. Alles ist so deutlich gesehen, daß es eine lückenlose Skala ergibt, das ganze Gewebe des Lebens, von Faden zu Faden, ab und auf. Aber alles alles ist in Bewegung gesehen. Nie wurde die uralte Weisheit des Παντα ρει grandioser erfaßt und in Gestalten umgesetzt. Alles ist Übergang. Hier scheint hinter diesen Büchern, deren Gesamtheit neben dem »Don Quixote« die größte epische Konzeption der modernen Welt bildet, die Idee der epischen Kunstform ihre Augen aufzuschlagen. Die Menschen zu schildern, die aufblühen und hinschwinden wie die Blumen der Erde. Nichts anderes tat Homer. Dantes Welt ist starr. Diese Dinge gehen nicht mehr vorüber, aber er selber wandert und geht an ihnen vorüber. Balzac sehen wir nicht. Aber wir sehen mit seinen Augen, wie alles übergeht. Die Reichen werden arm, und die Armen werden reich. Cäsar Birotteau geht nach oben und der Baron Hulot nach unten. Rubemprés Seele war wie eine unberührte Frucht, und vor unseren Augen verwandelt sie sich, und wir sehen ihn nach dem Strick greifen und seinem befleckten Leben ein Ende machen. Seraphita windet sich los und entschwebt zum Himmel. Jeder ist nicht, was er war, und wird, was er nicht ist. Hier sind wir so tief im Kern der epischen Weltanschauung, als wir bei Shakespeare im Kern der dramatischen sind. Alles ist fließend, alles ist auf dem Wege. Das Geld ist nur das genial erfaßte Symbol dieser infinitis modis vor sich gehenden Bewegung und zugleich ihr Vehikel. Durch das Geld kommt alles zu allem. Und es ist das Wesen der Welt, in dieser grandiosen und epischen Weise gesehen, daß alles zu allem kommt. Es sind überall Übergänge, und nichts als Übergänge, in der sittlichen Welt so gut wie in der sozialen. Die Übergänge zwischen Tugend und Laster – zwei mythische Begriffe, die niemand recht zu fassen weiß – sind ebenso fein abgestuft und ebenso kontinuierlich wie die zwischen reich und arm. Es stecken in den auseinanderliegendsten und widerstreitendsten Dingen gewisse geheime Verwandtschaften, wodurch alles mit allem zusammenhängt. Zwischen einem Concierge in seiner Souterrainwohnung und Napoleon in St.-Cloud kann für einen Moment eine geheime Affinität aufblitzen, die unendlich viel mehr als ein bloßer Witz ist. In der Welt wirkt schlechtweg alles auf alles: wie sollte dies nicht durch die geheimnisvollsten Analogien bedingt sein? Alles fließt; nirgends hält sich ein starrer Block, weder im Geistigen, noch im äußeren Dasein. »Liebe« und »Haß« scheinen getrennt genug und fest genug umschrieben: und ich kenne diese und jene Figur bei Balzac, in deren Brust das eine dieser Gefühle in das andere übergeht mit einer Allmählichkeit, wie die Farben des glühenden Eisens. Haßt Philomène den Albert Savarus, oder liebt sie ihn? Am Anfang hat sie ihn geliebt, am Ende scheint sie ihn zu hassen, sie handelt unter einer Besessenheit, die vielleicht Haß und Liebe zugleich ist, und vermöchte man sie zu fragen, sie könnte keine Auskunft geben, welches von beiden Gefühlen sie martert. Hier sind wir durch einen Abgrund getrennt von der Welt des achtzehnten Jahrhunderts mit ihren Begriffen, wie »Tugend«, die fest, rund und dogmatisch sind, wohl geeignet, feste und theologische Begriffe zu ersetzen. Hier ist jede Mythologie, selbst die der Worte, aufgelöst. Und nirgends sind wir Goethe näher. Hier, ganz nahe, ja im gleichen Bette, rauscht der tiefe Strom seiner Anschauung. Aber es war die Grundgebärde seines geistigen Daseins, sich hier nach der entgegengesetzten Seite zu wenden.

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