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Flecken hielt Genestas sein Pferd an, da er Gondrin und Goguelat erblickte, die beide mit Hacken und Schaufeln ausgerüstet waren.

      »Nun, meine alten Soldaten,« rief er ihnen zu, »wir haben also das Unglück gehabt, ihn zu verlieren!« …

      »Genug, genug, Herr Offizier,« antwortete Goguelat mit mürrischem Tone; »wir wissen es genau, wir haben gerade Rasenstücke für sein Grab ausgestochen!« »Wird sein Leben sich nicht schön erzählen lassen?« fragte Genestas.

      »Ja,« erwiderte Goguelat, »bis auf die Schlachten ist er der Napoleon unseres Tales.«

      Als Genestas vor dem Pfarrhause anlangte, erblickte er Butifer und Adrien mit Monsieur Janvier plaudernd vor der Türe; letzterer hatte zweifelsohne gerade Messe gelesen. Sobald Butifer sah, daß der Offizier absitzen wollte, kam er, sein Pferd zu halten, und Adrien fiel seinem Vater um den Hals, der ganz gerührt über diesen Ueberschwang war; doch verbarg der Militär seine Gefühle und sagte zu ihm:

      »Du bist ja wieder prächtig auf dem Damm, Adrien! Donnerwetter, dank unserem armen Freunde bist du fast ein Mann geworden. Ich werde Butifer, deinen Lehrmeister, nicht vergessen!«

      »Ach, Herr Oberst,« sagte Butifer, »nehmen Sie mich mit in Ihr Regiment! Seit der Herr Bürgermeister tot ist, hab' ich Angst vor mir. Wollte er nicht, daß ich Soldat würde? Schön, ich werd' seinen Willen tun. Er hat Ihnen gesagt, wer ich war, Sie werden etwas Nachsicht mit mir haben …«

      »Abgemacht, mein Braver,« sagte Genestas, in seine Hand einschlagend. »Sei ruhig, ich werd' für eine schöne Verwendung sorgen.« »Nun, Herr Pfarrer?« …

      »Ich, Herr Oberst, bin ebenso betrübt, wie es alle Leute des Bezirks sind, fühle aber lebhafter als sie, wie unersetzlich der Verlust ist, den wir erlitten haben. Der Mann war ein Engel! Glücklicherweise ist er gestorben, ohne zu leiden. Gott hat mit wohltätiger Hand die Bande eines Lebens gelöst, das für uns eine beständige Wohltat war.« »Kann ich Sie, ohne unbescheiden zu sein, bitten, mich zum Friedhof zu begleiten? Ich möchte ihm so etwas wie ein Lebewohl sagen.«

      Butifer und Adrien folgten Genestas und dem Pfarrer, die plaudernd einige Schritte vor ihnen hergingen. Als der Oberstleutnant den Flecken hinter sich hatte und auf den kleinen See zuging, bemerkte er auf der Rückseite des Berges ein großes, mit Mauern umgebenes Felsengelände.

      »Das ist der Friedhof,« sagte der Pfarrer zu ihm. »Gerade vor drei Monaten fielen ihm als erstem die Nachteile auf, die sich aus der Nachbarschaft der Kirchhöfe, die um die Kirchen herum liegen, ergaben; und, um das Gesetz durchzuführen, das ihre Verlegung auf eine gewisse Entfernung von den Wohnstätten verlangt, hat er selber der Gemeinde das Terrain geschenkt. Wir werden heute dort einen kleinen armen Knaben begraben: haben also damit begonnen, Unschuld und Tugend dort zu bestatten. Ist der Tod nicht ein Lohn? Gibt Gott uns damit, daß er zwei vollkommene Geschöpfe zu sich ruft, nicht eine Lehre? Gehen wir nicht zu ihm ein, nachdem wir in jungen Jahren durch physische und im vorgeschrittenen Alter durch moralische Leiden gründlich geprüft worden sind? Sehen Sie, dort ist das ländliche Denkmal, das wir ihm errichtet haben!«

      Genestas erblickte eine Erdpyramide von ungefähr zwanzig Fuß Höhe, die noch nackt war, deren Ränder aber unter den rührigen Händen einiger Bewohner anfingen, sich mit Rasenstücken zu bekleiden. Die Fosseuse saß, den Kopf zwischen den Händen, in Tränen aufgelöst, auf den Steinen, welche einem großen Kreuze Halt gaben, das aus einem Fichtenstamm bestand, dessen Rinde nicht abgeschält worden war. Der Offizier las folgende Worte, in großen Buchstaben in das Holz eingegraben:

D. O. MHier ruhtDer gute Monsieur BenassisUnser aller VaterBetet für ihn!

      »Sie, mein Herr,« sagte Genestas, »haben …«

      »Nein,« antwortete der Pfarrer, »wir haben das Wort daraufgesetzt, das von der Höhe des Gebirges bis nach Grenoble hin wiederholt wurde.«

      Nachdem er einen Augenblick geschwiegen und sich der Fosseuse, die ihn nicht hörte, genähert hatte, sagte Genestas zu dem Pfarrer:

      »Sobald ich meinen Abschied bekomme, will ich meine Tage unter Ihnen hier beschließen.«

Oktober 1832 bis Juli 1833.

      Eugénie Grandet

      (1834)

      Einleitung von Hugo von Hofmannsthal

      Man kennt diesen großen Autor nicht, wenn man von ihm nur dies oder jenes kennt. Es gibt nicht den einzelnen Band, der die Essenz seines dichterischen Daseins enthielte, wie »Faust« oder die »Gedichte« die Essenz von Goethes Dasein in sich fassen. Balzac will im breiten gelesen sein, und es bedarf keiner Kunst, ihn zu lesen. Es ist die selbstverständlichste Lektüre für Weltleute, das Wort in seinem weitesten Sinn genommen, vom Advokatenschreiber oder Kaufmannslehrling bis hinauf zum großen Herrn. Eher bedürfte es für Weltleute (ich rede von Männern aller Stände, von Politikern, Soldaten, von Geschäftsreisenden, von vornehmen und einfachen Frauen, von Geistlichen, von allen Menschen, die keine Literaten und keine Schöngeister sind, und von allen denen, die nicht aus Bildungsbedürfnis, sondern zur Belustigung ihrer Einbildungskraft lesen) von Fall zu Fall einer kleinen Anspannung, eines gewissen Übergangs, um Goethe zu lesen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß sich ihnen Goethe in den beschwerten und den verworrenen Momenten ihrer Existenz versagt; Balzac wird sich immer mit ihnen einlassen. Nicht im literarischen Sinn meine ich dies: denn bei Goethe wird der erste Vers, den sie aufschlagen, immer etwas Wundervolles sein, ein Geisterklang, ein Zauberspruch, und bei Balzac werden sie leicht auf drei oder vier langweilige, ermüdende Seiten stoßen, nicht bloß im Anfang einer Geschichte, sondern möglicherweise wo immer sie aufschlagen. Aber schon indem sie diese gleichgültigen und eher mühsamen Seiten mechanisch durchfliegen, wird etwas auf sie zu wirken beginnen, dem sich der wirkliche Leser, der lebendige menschliche Leser, niemals entzieht: eine große, namenlos substantielle Phantasie, die größte, substantiellste schöpferische Phantasie, die seit Shakespeare da war. Wo immer sie aufschlagen, bei einer Abschweifung über Wechselrecht und die Praktiken der Wucherer, bei einem Exkurs über legitimistische oder liberale Gesellschaft, bei der Schilderung eines Kücheninterieurs, einer ehelichen Szene, eines Gesichtes oder einer Spelunke werden sie Welt fühlen, Substanz, die gleiche Substanz, aus der das Um und Auf ihres Lebens gebildet ist. Sie werden unmittelbar aus ihrem Leben in diese Bücher hinüberkönnen, ganz unvermittelt, aus ihren Sorgen und Widerwärtigkeiten heraus, ihren Lieblingsgeschichten und Geldaffären, ihren trivialen Angelegenheiten und Ambitionen. Ich bin dem Finanzier begegnet, der übergangslos nach seinen Sitzungen und Konferenzen zu seinem Balzac griff, im welchem er die letzten Notierungen der Börse als Lesezeichen liegen hatte, und der Weltdame, die in »Les illusions perdues« oder »La vieille fille« die einzig mögliche Lektüre fand, um sich selbst zurückzufinden, abends, nachdem man unter Menschen war oder Menschen bei sich gesehen hat, die einzige Lektüre, die stark und rein genug ist, um die Phantasie von dem jähen und so zerrüttenden Fieber der Eitelkeit zu heilen und alles Gesellschaftliche auf sein Menschliches zu reduzieren. Diese Funktion, mitten in das Leben des Menschen hineinzugreifen, das Gleiche mit dem Gleichen zu heilen, die Wirklichkeit mit einer erhöhten dämonischen Wirklichkeit zu besiegen – ich frage mich, welcher unter den großen Autoren, mit denen unser geistiges Leben rechnet, hierin mit Balzac rivalisieren könnte – es wäre denn Shakespeare. Aber Shakespeare so zu lesen, wie andere Generationen die Alten gelesen haben, ich meine, ihn so zu lesen, daß man das Ganze des Lebens aus ihm herausliest, ihn vom Standpunkt des Lebens zu lesen und die wahrsten Bedürfnisse seiner Wißbegierde an ihm zu befriedigen, ist nicht jedermanns Sache. Es ist nicht jedermanns Sache, seine Einbildungskraft so anzuspannen, daß sie die Distanz von drei Jahrhunderten überfliegt, alle Verhüllungen einer prachtvollen, aber wildfremden Epoche durchdringt und dahinter nur das ewig wahre Auf und Ab des menschlichen Tuns und Leidens wahrnimmt. Es ist nicht jedermanns Sache, ohne die Hilfe des Schauspielers, ohne eine ganz bestimmte Begabung der nachschaffenden Einbildungskraft, die genialste Verkürzung und Zusammendrängung, die jemals realisiert wurde, wieder in eine solche Breite des Weltbildes auszulösen, daß er in ihr sich selber und die vielfach verschlungenen Fäden des Daseins wiederfindet, deren Durchkreuzung seine Wirklichkeit bedeutet.

      Goethe ist in gewissem Sinne leichter zu lesen, und wer liest

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