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Menschen gehen und mein Leben verbringen, indem ich irgendwo auf dem Lande vegetierte; die Misanthropie jedoch, eine Art unter rauher Oberfläche verborgener Eitelkeit, ist keine katholische Tugend. Des Misanthropen Herz blutet nicht, es zieht sich zusammen, meines aber blutete aus allen Adern. Als ich an die Gesetze der Kirche dachte, an die Hilfsmittel, die sie den Betrübten gewährt, begriff ich schließlich die Schönheit des Gebets in der Einsamkeit, und es verfolgte mich der Gedanke, in ein Kloster zu gehen. Obwohl ich fest dazu entschlossen war, bewahrte ich mir nichtsdestoweniger die Möglichkeit, die Mittel zu prüfen, die ich zur Erreichung meines Ziels anwenden mußte. Nachdem ich die Ueberreste meines Vermögens flüssig gemacht hatte, reiste ich beinahe ruhig ab. Der ›Frieden im Herrn‹ war eine Hoffnung, die mich nicht täuschen konnte. Anfänglich von der Ordensregel des heiligen Bruno berückt, kam ich, ernsthaften Gedanken hingegeben, zu Fuß nach der Grande-Chartreuse. Es war ein feierlicher Tag für mich. Auf das majestätische Schauspiel, das der Weg dorthin bietet, wo sich bei jedem Schritte eine rätselhafte übermenschliche Macht zeigt, war ich nicht gefaßt. Die überhängenden Felsen, die Abstürze, die Wildbäche, welche eine Stimme in der Stille erheben, die durch hohe Berge begrenzte und dennoch grenzenlose Einsamkeit, das Asyl, wohin vom Menschen nichts dringt als seine unfruchtbare Neugier, jener wilde, nur durch die malerischen Schöpfungen der Natur gemilderte Schauder, die tausendjährigen Fichten und die Eintagspflanzen: all das stimmt einen feierlich, Es würde einem schwer fallen, zu lachen, wenn man die Einöde des heiligen Bruno durchquert, denn dort triumphieren die Gefühle der Melancholie. Ich sah die Grande-Chartreuse, erging mich unter jenen alten, schweigenden Gewölben und hörte unter den Arkaden das Wasser Tropfen um Tropfen fallen. Ich betrat eine Zelle, um dort das Maß meines Nichts zu nehmen, atmete den tiefen Frieden, den mein Vorgänger dort genossen hatte und las voller Rührung die Inschrift, die er der Klostersitte entsprechend über seine Tür geschrieben hatte; alle Vorschriften für das Leben, das ich dort führen wollte, waren in den drei lateinischen Worten: ›Fuge, late, tace‹, enthalten …«

      Genestas neigte den Kopf, wie wenn er verstanden hätte.

      »Ich war entschlossen,« fuhr Benassis fort. »Die fichtengetäfelte Zelle, das harte Bett, die Zurückgezogenheit, alles entsprach meinem Gemüte. Die Kartäuser waren in der Kapelle, ich ging hin, um mit ihnen zu beten. Da wurden meine Entschlüsse zunichte. Ich will der katholischen Kirche kein Urteil sprechen, mein Herr, ich bin sehr orthodox und glaube an ihre Werte und Gesetze. Als ich aber jene weltfremden und der Welt abgestorbenen Greise ihre Gebete singen hörte, erkannte ich im Wesen des Klosters eine Art sublimer Selbstsucht. Diese Zurückgezogenheit nützt nur dem Einzelmenschen und ist nur ein langsamer Selbstmord; ich verurteile sie nicht, mein Herr. Wenn die Kirche solche Gräber geöffnet hat, sind sie zweifelsohne für einige Christen, die für die Welt vollkommen des Nutzens entbehren, notwendig. Ich glaubte besser zu handeln, wenn ich meine Reue für die soziale Welt fruchtbar mache. Bei der Rückkehr machte es mir Freude, über die Bedingungen nachzusinnen, unter denen ich meine Entsagungsgedanken ausführen könnte. Bereits führte ich in Gedanken ein einfaches Matrosenleben, verurteilte mich zum Dienste fürs Vaterland, indem ich meinen Platz auf der niedrigsten Stufe suchte und auf alle intellektuellen Kundgebungen Verzicht leistete; doch wenn dies auch ein arbeitsames und aufopferndes Leben bedeutete, schien es mir noch nicht nützlich genug zu sein. Hieß das nicht gegen Gottes Absichten handeln? Wenn er mir irgendwelche geistigen Kräfte verliehen hatte, war es da nicht meine Pflicht, sie zu meinesgleichen Wohle anzuwenden? Dann fühlte ich, wenn es mir erlaubt ist, offen zu sein, in mir ein unsägliches Expansionsbedürfnis, dem lediglich mechanische Verpflichtungen Abbruch taten. Im Seemannsleben sah ich keinerlei Nahrung für die Güte, die sich aus meiner Organisation ergibt, wie jede Blume einen ihr eigentümlichen Duft ausströmt. Ich sah mich, wie ich Ihnen bereits erzählte, genötigt, hier zu übernachten. In jener Nacht glaubte ich in dem mitleidigen Gedanken, den mir der Zustand dieses armen Landes einflößte, einen Befehl Gottes zu hören. Ich hatte von den grausamen Wonnen der Mutterschaft gekostet, ich entschloß mich, ihnen mich ganz hinzugeben, dies Gefühl in einer ausgedehnteren Sphäre als jener der Mütter zu sättigen, indem ich eine barmherzige Schwester für ein ganzes Land würde und dort der Armen Wunden immerfort verbände. Der Finger Gottes schien mir also meine Bestimmung deutlich vorgeschrieben zu haben, als ich daran dachte, daß meiner Jugend erster ernsthafter Gedanke mich dem Arztberufe hatte zuneigen lassen, und ich entschloß mich, ihn hier auszuüben. Ueberdies hatte ich in meinem Briefe gesagt ›Verwundeten Herzen ziemt das Dunkel und Schweigen‹, und was zu tun ich mir selber versprochen hatte, hier wollte ich's ausführen. Ich habe den Pfad des Schweigens und der Resignation betreten. Des Kartäusers Fuge, late, tace ist hier mein Wahlspruch, meine Arbeit ist ein aktives Gebet, mein moralischer Selbstmord das Leben dieses Bezirks, über den ich, die Hand ausstreckend, Glück und Freude auszusäen und ihm das zu geben liebe, was ich nicht habe. Die Gewohnheit, mit Bauern zusammenzuleben, meine Entfernung aus der Welt haben mich wirklich umgewandelt. Mein Gesicht hat den Ausdruck gewechselt, ist an die Sonne gewöhnt, die es runzlig gemacht und abgehärtet hat. Ich habe eines Landmanns Benehmen, Sprache, Kleidung, Gehenlassen und Nichtbeachtung alles dessen, was Maske ist, angenommen. Meine Pariser Freunde oder die Mondänen, deren Cicisbeo ich war, würden in mir den Mann, der einen Augenblick Mode war, den an den Flitterkram, Luxus und die Feinheiten von Paris gewöhnten Sybariten nie wiedererkennen. Heute ist mir alles Aeußerliche vollkommen gleichgültig wie all denen, die unter der Führung eines einzigen Gedankens dahingehen. Kein anderes Ziel habe ich im Leben mehr als das, es zu verlassen; ich will nichts unternehmen, um dem Ende zuvorzukommen oder es zu beschleunigen, aber ohne Kummer werde ich mich an dem Tage, wo die Krankheit kommen mag, zum Sterben niederlegen. Das, mein Herr, sind in aller Offenheit die Erlebnisse des Lebens, das dem, welches ich hier führe, vorherging. Ich habe Ihnen nichts von meinen Fehlern verheimlicht, sie sind groß gewesen und manche Männer haben die nämlichen. Viel habe ich gelitten und leide ich tagtäglich; aber ich habe in meinen Leiden die Bedingung einer glücklichen Zukunft gesehen. Trotz meiner Resignation gibt es Qualen, gegen die ich machtlos bin. Heute wäre ich vor Ihnen, ohne daß Sie es ahnten, beinahe heimlichen Martern unterlegen …«

      Genestas fuhr von seinem Stuhle auf.

      »Ja, Rittmeister Bluteau, Sie waren dabei. Haben Sie mir nicht Mutter Colas' Bett gezeigt, als wir Jacques niederlegten? Nun, wenn es mir unmöglich ist, ein Kind zu sehen, ohne an den Engel zu denken, den ich verloren habe, so können Sie sich meine Schmerzen ausmalen, wenn ich ein zum Sterben verdammtes Kind ins Bett lege! Ich kann ein Kind nicht kalten Herzens ansehen …«

      Genestas erbleichte.

      »Ja, die hübschen blonden Köpfe, die unschuldigen Köpfe der Kinder, denen ich begegne, sprechen mir beständig von meinem Unglück und wecken meine Qualen wieder auf. Und dann ist es ein schrecklicher Gedanke für mich, daß so viele Leute mir für das wenige Gute, das ich ihnen hier tue, danken, wo dieses Gute doch die Frucht meiner Gewissensbisse ist! Sie allein kennen das Geheimnis meines Lebens, Rittmeister. Wenn ich meinen Mut aus einem reineren Gefühle als dem meiner Fehler geschöpft hätte, würde ich sehr glücklich sein, hätte Ihnen jedoch nichts von mir zu erzählen gehabt!«

      V: Elegien

      Als Benassis mit seiner Erzählung fertig war, bemerkte er auf des Offiziers Gesicht einen tief nachdenklichen Ausdruck, der ihn überraschte. Es berührte ihn tief, so gut verstanden worden zu sein, und fast bereute er es, seinen Gast betrübt zu haben, und so sagte er zu ihm:

      »Aber, Rittmeister Bluteau, mein Unglück …«

      »Nennen Sie mich nicht Rittmeister Bluteau,« rief Genestas, den Arzt unterbrechend, und mit einer heftigen Bewegung, die eine Art innerer Unzufriedenheit verriet, plötzlich aufstehend. »Es gibt keinen Rittmeister Bluteau. Ich bin ein armseliger Mensch!«

      Nicht ohne lebhafte Ueberraschung blickte Benassis Genestas an, der im Salon herumirrte wie eine Hummel, die aus einem Zimmer, in das sie versehentlich geraten, einen Ausweg sucht.

      »Aber, wer sind Sie denn, mein Herr?« fragte Benassis.

      »Ach, das ist's ja!« antwortete der Offizier, indem er sich wieder dem Arzte gegenübersetzte, den er nicht anzusehen wagte. »Ich habe Sie getäuscht!« fuhr er mit erregter Stimme fort. »Zum ersten Male in meinem Leben hab' ich mir eine Lüge zuschulden kommen lassen und bin tüchtig dafür bestraft worden; denn ich kann Ihnen nun nicht

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