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einer reuigen Seele, die es nach dem Schönen, Guten und Ehrbaren dürstete, waren von wirklich frommen Menschen zurückgewiesen worden. Im ersten Augenblicke, mein Herr, wurde mein Gemüt von den tollsten Entschlüssen bewegt; glücklicherweise aber bekämpfte sie der Anblick meines Sohnes. Da fühlte ich meine Liebe zu ihm durch all die Unglücksfälle, deren unschuldige Ursache er war und die ich mir allein vorzuwerfen hatte, wachsen. Er wurde also mein ganzer Trost. Mit vierunddreißig Jahren konnte ich noch hoffen, meinem Vaterlande auf edle Weise nützlich zu sein; ich entschloß mich, ein berühmter Mann zu werden, um durch Ruhm oder im Glanze der Macht den Makel auszulöschen, der meines Sohnes Geburt anhaftete. Wie viele schöne Gefühle schulde ich ihm, und wie hat er mich dem Leben erhalten während der Tage, da ich mich mit seiner Zukunft beschäftigte! – Ich ersticke!« rief Benassis. »Nach elf Jahren kann ich noch nicht an jenes unselige Jahr denken … Dies Kind, mein Herr, habe ich verloren!«

      Der Arzt schwieg und verbarg das Gesicht in seinen Händen, die er sinken ließ, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. Nicht ohne Bewegung sah Genestas die Tränen, welche seines Gastgebers Augen feuchteten.

      »Dieser Blitzschlag, mein Herr, entwurzelte mich zuerst,« fuhr Benassis fort. »Ich sammelte die Einsichten einer gesunden Moral erst wieder, nachdem ich mich in einen anderen Boden wie den der geselligen Welt verpflanzt hatte. Erst später erkannte ich Gottes Hand in meinen Unglücksfällen, und später wußte ich mich zu bescheiden, indem ich auf seine Stimme hörte. Meine Resignation konnte nicht plötzlich eintreten, mein überspannter Charakter mußte wieder zu sich kommen; ich verschwendete die letzten Flammen meiner Aufwallung in einem letzten Sturme; lange zauderte ich, ehe ich den einzigen Entschluß, der sich für einen Katholiken zu fassen ziemt, wählte. Anfangs wollte ich mich töten. Da alle diese Ereignisse die Schwermut in mir in maßloser Weise entwickelt hatten, entschied ich mich kalt für solch einen Verzweiflungsakt. Ich wähnte, es sei uns erlaubt, das Leben zu verlassen, wenn das Leben uns verließe. Der Selbstmord schien mir natürlich zu sein. Kümmernisse müssen in der Menschenseele die nämlichen Verheerungen anstiften wie äußerster Schmerz sie in seinem Körper verursacht; also hat das an einer moralischen Krankheit leidende intelligente Wesen wohl das Recht, sich ebenso wie das Schaf zu töten, das von der Drehkrankheit gequält sich den Schädel an einem Baume einrennt. Sind die Leiden der Seele denn leichter zu heilen als körperliche? Ich zweifle noch daran. Ich weiß nicht, wer von beiden der feigste ist: der immer hofft oder der nicht mehr hofft. Der Selbstmord schien mir die letzte Krise einer moralischen Krankheit zu sein, wie der natürliche Tod die einer physischen ist; muß aber, da das moralische Leben den besonderen Gesetzen des menschlichen Willens unterworfen ist, seine Beendigung nicht mit den Aeußerungen der Intelligenz übereinstimmen? Darum tötet ja der Gedanke und nicht die Pistole. Spricht übrigens der Zufall, der uns im Augenblick zu Boden schlägt, wo das Leben ganz glücklich ist, nicht den Menschen frei, der sich weigert, ein unglückliches Leben zu führen? Die Ueberlegungen aber, die ich in diesen Tagen der Trauer anstellte, hoben mich zu höheren Betrachtungen empor. Eine Zeitlang teilte ich die großen Gefühle des heidnischen Altertums; indem ich neue Rechte für den Menschen darin suchte, glaubte ich aber im Lichte der modernen Leuchten tiefer in den einst in Systeme gebrachten Fragen zu schürfen als die Alten. Epikur erlaubte den Selbstmord. Bildete er nicht die Ergänzung seiner Moral? Er brauchte die Sinnenfreude um jeden Preis. Entfiel diese Bedingung, so war es süß und statthaft für ein beseeltes Wesen, in die Ruhe der unbeseelten Natur einzugehen; da das einzige Ziel des Menschen das Glück oder die Hoffnung auf Glück war, so wurde für den, der litt und ohne Hoffnung litt, der Tod ein Gut: sich ihn freiwillig geben, war ein letzter Vernunftsakt. Diesen Akt lobte er nicht, noch tadelte er ihn; er begnügte sich, Bacchus ein Trankopfer darbringend, zu sagen: ›Sterben, das ist kein Grund zu lachen, das ist kein Grund zu weinen.‹ Moralischer und erfüllter von der Doktrin der Pflichten als die Epikureer, schrieben Zenon und die ganze Stoa dem Stoiker in gewissen Fällen den Selbstmord vor. Und zwar sprach er folgendermaßen: Der Mensch unterscheidet sich darin von dem unvernünftigen Tier, daß er selbst unumschränkt über seine Person verfügt; nehmt ihr ihm dies Recht zu leben und zu sterben, so macht ihr ihn zum Sklaven der Menschen und der Ereignisse. Dies als gültig anerkannte Lebens- und Todesrecht bildete ein wirksames Gegengewicht gegen alle natürlichen und sozialen Leiden; dieses nämliche Recht, dem Menschen über seinesgleichen verliehen, erzeugt alle Tyranneien. Die Macht des Menschen existiert also nirgendwo ohne eine unbegrenzte Aktionsfreiheit: muß der gewöhnliche Mensch den schimpflichen Konsequenzen eines nicht wiedergutzumachenden Fehls entgehen, so verliert er sein Schamgefühl und lebt; der Weise trinkt den Schierlingsbecher und stirbt. Muß er die Reste seines Lebens der Gicht, welche die Knochen zermürbt, oder dem Krebs streitig machen, der das Gesicht zerfrißt, dann wählt der Weise den richtigen Augenblick, verabschiedet die Quacksalber und sagt seinen Freunden, die er durch seine Gegenwart traurig macht, ein letztes Lebewohl. Und was soll man tun, wenn man in die Gewalt des Tyrannen geraten ist, den man mit den Waffen in der Hand bekämpft hat? Die Unterwerfungsurkunde ist ausgefertigt worden, man braucht sie nur noch zu unterschreiben oder den Hals hinzuhalten: der dumme Tropf hält den Hals hin, der Feigling unterzeichnet, der Weise endigt mit einem letzten Freiheitsakt, er ersticht sich. ›Freie Menschen,‹ rief damals der Stoiker, ›wißt euch frei zu erhalten! Frei von euren Leidenschaften, indem ihr sie den Pflichten opfert; frei von euresgleichen, indem ihr ihnen das Eisen oder Gift zeigt, die euch ihren Verfolgungen entziehen; frei vom Schicksal, indem ihr den Punkt festsetzt, über den hinaus ihr ihm keine Möglichkeit laßt, auf euch einzuwirken; frei von den Vorurteilen, indem ihr sie nicht mit den Pflichten verwechselt, frei von allen animalischen Besorgnissen, indem ihr den groben Instinkt, der so viele Unglückliche ans Leben fesselt, zu überwinden wißt.‹ Nachdem ich diese Argumentation von dem philosophischen Wortschwall der Alten befreit hatte, glaubte ich ihr eine christliche Form zu geben, wenn ich sie durch die Gesetze des freien Willens verstärkte, den Gott uns verliehen hat, damit er eines Tages vor seinem Richtstuhle uns richten könne, und sagte mir: ›Dort will ich mich verteidigen!‹ Solche Sätze, mein Herr, zwangen mich aber an den Tag nach meinem Tode zu denken, und ich fand mich in Zwiespalt mit meinem erschütterten früheren Glauben. Alles wird dann schwer im Menschenleben, wenn die Ewigkeit auf den einfachsten unserer Entschließungen lastet. Wenn diese Idee mit ihrer ganzen Wucht auf eines Menschen Seele wirkt, und ihn in sich irgend etwas Ungeheures fühlen läßt, das ihn in Zusammenhang mit dem Unendlichen bringt, ändern sich die Dinge merkwürdig. Von diesem Gesichtspunkte aus ist das Leben recht groß und recht klein. Das Gefühl meiner Fehler ließ nicht an den Himmel denken, solange ich Hoffnungen auf die Erde setzte, solange ich Linderung für meine Leiden in einigen sozialen Beschäftigungen fand. Lieben, sich dem Glück einer Frau widmen, Familienhaupt sein, hieß das nicht jenem Bedürfnis, meine Fehler zu sühnen, das in mir keimte, edle Nahrung reichen? War es nicht auch, als dieser Versuch fehlgeschlagen, eine Sühne, wenn ich mich meinem Kinde widmete? Als aber nach diesen beiden Anstrengungen meiner Seele Verachtung und Tod ewige Trauer darüber gebreitet hatten, als alle meine Empfindungen auf einmal verletzt wurden, und ich hienieden nichts mehr sah, hob ich die Augen gen Himmel auf und begegnete dort Gott. Indessen versuchte ich die Religion an meinem Tode mitschuldig zu machen. Ich las die Evangelien wieder und fand keine Stelle, wo der Selbstmord verboten wird. Diese Lektüre aber durchtränkte mich mit dem göttlichen Gedanken an den Heiland der Menschen. Wahrlich, er sagt dort nichts von der Unsterblichkeit der Seele, erzählt uns aber von dem schönen Reiche seines Vaters; er verbietet uns auch nirgendwo den Vatermord, verdammt jedoch alles, was vom Uebel ist. Der Ruhm seiner Evangelisten und der Beweis ihrer Mission besteht weniger darin, Gesetze geschaffen zu haben, als den neuen Geist der neuen Gesetze auf Erden verbreitet zu haben. Der Mut, den ein Mensch entwickelt, wenn er sich tötet, schien mir nun seine eigene Verurteilung zu sein: wenn er die Kraft zu sterben in sich fühlt, muß er auch die besitzen, zu kämpfen; sich zu leiden weigern ist keine Kraft, sondern Schwäche. Heißt übrigens, das Leben aus Mutlosigkeit verlassen, nicht den christlichen Glauben abschwören, dem Jesus als Basis die erhabenen Worte: ›Glücklich sind, die da leiden!‹ gegeben hat. Der Selbstmord erschien mir also in keiner Krise mehr entschuldbar, selbst bei einem Menschen nicht, der in einer fälschlichen Deutung der Seelengröße einen Augenblick, bevor der Henker ihn mit seinem Beile trifft, über sich selber entscheidet. Hat Jesus Christus, dadurch daß er sich kreuzigen ließ, uns nicht gelehrt, allen menschlichen Gesetzen, auch wenn sie falsch angewendet werden, zu gehorchen? Das Wort: Resignation, das in das Kreuz eingegraben und für alle, welche die heiligen

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