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(gewesen) sein und morgen erneut gestattet werden und umgekehrt. Die aufklärende Lehre des Sokrates (469-399 v. Chr.) – im antiken Griechenland als kriminelle Verführung der Jugend geahndet – erscheint uns heute als Tugend. Der strikte Befehlsgehorsam der Nazischergen offenbart sich heute als Banalität des Bösen (Hannah Arendt).

      [9]23

      Die Bestimmung von Kriminalität durch das Strafgesetz ist generell-abstrakt. Um diese Bestimmung konkretem Verhalten zuordnen zu können, muss das Strafgesetz von den Instanzen der Strafjustiz auf solches Verhalten angewandt werden. Die konkretisierende Rechtsanwendung ist mit den Vagheiten der Sprache behaftet. Entscheidungen könnten stets abweichend getroffen und anders begründet werden. Das staatliche Entscheidungsmonopol über die offizielle Bestimmung von Kriminalität hindert nicht daran, dass wir alle unsere eigenen Vorstellungen über Anwendungen des Strafrechts bilden, wobei diese unterschiedlich ausfallen mögen. Nicht nur der Verlauf der Strafzone ist verschieden bestimmbar. Auch die Bedeutungen, welche den als verboten geltenden Handlungen zugewiesen werden, sind perspektivenhaft unterschiedlich: Was sich für den Polizisten als beschädigende Eigentumsverletzung darstellt, versteht der Sprayer als subversive Kunst. Dazu variieren die Auffassungen über die Sinnhaftigkeit und Angemessenheit des strafrechtlichen Verbots in Zeit und Raum sowie innerhalb einer Gesellschaft, wie Kontroversen um die Reichweite der Zulässigkeit von Sterbehilfe und Schwangerschaftsabbruch zeigen.

      24

      Wie bei der Zuschreibung von Kriminalität ergibt sich eine verwirrende Vielfalt von Aspekten und jetzt auch kniffligen Fragen, wenn wir Kriminalität als konkretes Verhalten verstehen, auf welches sich diese Zuschreibung bezieht. Was eigentlich macht „kriminelles Verhalten“ aus, wenn nicht seine strafrechtliche Ausweisung als Rechtsbruch? Und was verbindet so disparate Handlungen wie Ladendiebstahl und Eifersuchtsmord außer dem oberflächlichen Band des strafrechtlichen Verbots? Ist die unentdeckt bleibende Straftat (→ § 15) oder das Delikt, von dessen Bestrafung man sich bei der Staatsanwaltschaft freikauft (§ 153a StPO), Kriminalität? Ist es überhaupt möglich, ein kriminelles Verhalten zu studieren, wo doch seine kennzeichnende Eigenschaft „kriminell“ nicht im Verhalten angelegt ist, sondern durch Zuschreibung erfolgt?

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      Wenn wir unterstellen, dass der Verhaltensaspekt von Kriminalität als solcher studiert werden kann, bleibt zu klären, mit welcher Brennweite wir uns diesen vor Augen führen wollen. Mikroskopisch stellt sich etwa die Frage: Warum brechen bestimmte Personen das Recht und andere nicht? Mesoskopisch interessiert vor allem das Entscheidungsverhalten von Polizei und Justiz. Makroskopisch sind Einflüsse der Gesellschaft und ihrer Struktur auf Menge und Form der registrierten Kriminalität von Interesse. Innerhalb dieser Möglichkeiten ist abermals zu differenzieren, etwa danach, was genau an kriminellem Verhalten zu erklären sei: Die einzelne Verhaltenssequenz, die auf solches Verhalten bezogene charakterliche Anlage, die Rückfälligkeit, der kriminelle Lebensstil, der Einstieg, das Verbleiben oder der Ausstieg aus einer kriminellen Karriere?

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      Die Bandbreite der Verständnismöglichkeiten von „Kriminalität“ ist nicht verwunderlich. Auch „Familie“ bedeutet für die katholische Kirche nicht dasselbe wie für[10] die alleinerziehende Mutter, in Deutschland nicht dasselbe wie in einer nativen afrikanischen Stammesgemeinschaft und in der Spätmoderne etwas anderes als im Mittelalter. Der Grund für die Bedeutungsvielfalt besteht darin, dass Kriminalität keine ontologische Realität besitzt: Ihr Wirklichkeitsbezug erschöpft sich in der Anwendung des Begriffs auf spezifische Handlungen, die damit als kriminell erscheinen. Die Handlungen selbst sind nicht „in sich“ kriminell. Vielmehr werden in Zeiten und Gesellschaften unterschiedliche Anwendungen des Begriffs Kriminalität praktiziert, wobei teilweise durchaus Bagatellen erfasst und manches extrem sozialschädliche Verhalten ausgespart wird. Die Kriminalität ist, kurz gesagt, ein Produkt der Gesellschaft und drückt deren jeweilige kulturelle Einschätzung aus.

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      Die Gesellschaft ist die Aushandlungsinstanz von Kriminalität. Die soziale Interaktion über Normalität und Normabweichung, Erwünschtes und Geächtetes, Toleranz und Repressionsbedürftigkeit bestimmt die Inhalte der Kriminalität. Diese ist nicht ohne ihren Charakter als Abweichung von einem gesellschaftlich definierten Normalitätsmaßstab definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Mehr noch: Kriminalität ist ein Spiegel der Gesellschaft. In der jeweiligen inhaltlichen Bestimmung des Kriminellen drückt sich pars pro toto die jeweilige Gesellschaft in ihrem Normalitätsverständnis und ihrer Toleranzbereitschaft aus. Der Charakter der Kriminalität als Werk und Spiegel der Gesellschaft ist die Basis, auf der die miteinander wetteifernden Grundverständnisse der Kriminologie entwickelt und eigene Positionen bezogen werden können.

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      Mit dem Begriff des „Verbrechens“ ist anders als im Strafrecht keine Abgrenzung zum Vergehen (§ 12 StGB) gewollt, sondern eine diffuse Sammelbezeichnung angesprochen, deren Inhalt klärungsbedürftig ist. Angesichts dessen bestehen verschiedene Verbrechensbegriffe, die je verschiedene klärende Antworten geben.24

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      Dem formellen oder legalistischen Verbrechensbegriff zufolge sind Verbrechen alle von strafrechtlichen Normen mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen. Was Verbrechen ist und was nicht hängt damit stets von den jeweils in einer Gesellschaft geltenden Strafgesetzen ab. Diese Definition von Verbrechen ist somit klar und gut abgrenzbar. Andererseits kann sie nicht erfassen, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was Kriminalität ist, im Laufe der Zeit wandeln. Damit wird [11] die Bestimmung des Forschungsgegenstandes von den Wertungen des Gesetzgebers abhängig.

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      Dagegen richten sich die materiellen Verbrechensbegriffe mit dem Versuch, das Wesen des Verbrechens aus seiner strafrechtlichen Bestimmung zu lösen. Welche Kriterien stattdessen heranzuziehen sind, wird unterschiedlich beantwortet. Nach dem natürlichen (oder naturrechtlichen) Verbrechensbegriff lassen sich Handlungen, die epochen- und kulturübergreifend als verwerflich angesehen werden, von solchen unterscheiden, die erst durch gesetzliche Regelungen als solche definiert werden. Den delicta mala per se (in sich schlechte Taten) stehen die delicta mala quia prohibita (schlicht verbotene Taten) gegenüber. Dem Verbrechensbegriff sollen nur erstere unterfallen. Ein anderer Ansatz orientiert sich an den geschützten Rechtsgütern. Werden bestimmte Interessen von der Rechtsordnung als schützenswert anerkannt, stellt ihre Verletzung ein Verbrechen dar. Damit bleibt die normative und nationalstaatliche Bindung des formellen Verbrechensbegriffs bestehen, wird aber nicht auf das Strafrecht und seine Tatbestände beschränkt.

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      Der soziologische Verbrechensbegriff stellt demgegenüber auf die Sozialschädlichkeit des Verhaltens ab. Danach stellen alle abweichenden bzw. sozialschädlichen25 Verhaltensweisen ein Verbrechen dar – unabhängig davon, ob sie strafrechtlich verboten sind. Umgekehrt verneint dieser Verbrechensbegriff das Vorliegen eines Verbrechens bei Verhaltensweisen, die zwar rechtlich verboten sind, aber nur aus moralischen Erwägungen sanktioniert werden. Ein interaktionistischer Verbrechensbegriff definiert demgegenüber nur solches Verhalten als Verbrechen, das von den Strafverfolgungsinstanzen bzw. der Gesellschaft als solches behandelt wird. Er erfasst also insbesondere nicht das Dunkelfeld.

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      Eine abschließende Definition des Verbrechens im kriminologischen Sinne ist nicht möglich. Die verschiedenen Ansätze ermöglichen vielmehr unterschiedliche Perspektiven auf die zu erfassenden Verhaltensweisen und sind je nach Kontext hierfür besser oder schlechter geeignet. Entscheidend ist es, sich die Variabilität des Begriffs vor Augen zu führen und stets darauf zu achten, auf welchen Verbrechensbegriff sich die jeweilige Debatte stützt. In der kriminologischen Forschung ist dies häufig der formelle Verbrechensbegriff.

      Lektüreempfehlung: Brown, Michelle (2009): The Culture of Punishment. Prison, Society, and Spectacle. New York/London, 4-53.

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