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Erkenntnisform des Verstehens hat sich in der empirischen Sozialwissenschaft neben der objektivierenden quantitativen Forschung ein derzeit noch kleiner Zweig qualitativer Forschung ausgebildet (→ § 5 Rn 3 ff.). Diese unternimmt auf durchaus schmaler quantitativer Basis Sondierungen in die Tiefe. Das Interesse gilt der möglichst authentischen Erfassung der „Sinndeutungen“ des relevanten Geschehens aus der Subjektperspektive der Betroffenen.44 Beobachtungen finden „im Feld“ einer natürlichen Situation statt, wobei der Forscher an den situativen Interaktionen teilnimmt. Befragungen werden in dialogisch geführten und ergebnisoffenen Interviews erstellt, deren Auswertung intensiv erfolgt und nicht auf statistische Kennwerte beschränkt bleibt.45

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      So kann der gewalttätige Jugendliche nach den Motiven seines Tuns befragt, die Empfindungen der Opfer ermittelt, der prügelnde Vater auf seine „Erziehungspraxis“ und deren mögliche Spätfolgen angesprochen und daraus eine Deutung des Geschehens in seiner interaktiven Vernetzung vorgenommen werden. Auf die wissenschaftliche Deutung reagiert das Untersuchungsfeld wie die Gesellschaft insgesamt und verlangt nach neuerlicher Prüfung der Sinnadäquanz dieser Deutung. Dem Modell des Erklärens sind solche Zugänge zu den Sinngebungen menschlichen Handelns und der Praxis der gesellschaftlichen Verständigung darüber versperrt. Es reduziert in seiner Beobachtung der Gesellschaft deren sinngebende Strukturen auf buchstäblich „sinnlose“ naturhafte Gegebenheiten.46

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      Aber nicht nur der Versuch, den Forschungsgegenstand zu beschreiben bereitet Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass sich dieser laufend und unter den Augen des jeweiligen Betrachters verändert. Denn das Begreifen von Bedeutungen ist stets beispielgebunden, also auf Fälle der Anwendung des Wortes bezogen. Eine Erklärung verstehen heißt, die Regeln ihres Gebrauchs nachvollziehen zu können, nicht aber, dieselben Anwendungen vor Augen zu haben.

      [22]„Und die Verständigung durch die Sprache ist nicht der Vorgang, dass ich durch ein Gift im Andern die gleichen Schmerzen hervorrufe, wie ich sie habe.“47

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      In diesem Sinne prägt auch der Zeitgeist die wissenschaftliche Wahrnehmung und führt dazu, dass das Erkenntnisinteresse sich wandelt und neue Erklärungsmodelle bevorzugt werden. Stichworte zu den Veränderungen in den letzten dreißig Jahren lauten: Kriminalität wurde von einem sozialschädlichen Verhalten, das nach Reaktionen verlangt, zu einem Risiko, welches vor Schadenseintritt zu kalkulieren und kontrollieren ist. Dem entsprechend haben sich die regulierenden Praktiken der Kriminalpolitik von nach- zu vortatbezogenen Interventionen verlagert, wobei das staatliche Sicherheitsmonopol zugunsten von Eigenvorsorge und einer Marktöffnung für nichtstaatliche Sicherheitsanbieter durchbrochen wurde. Die Kriminalpolitik hat ihren moralischen Bezug aufgegeben und konzentriert sich auf ein technologisch betriebenes Sicherheitsmanagement. Die Kriminalprävention hat ihren Schwerpunkt von personenbezogenen sozialpolitischen und resozialisierenden Interventionen, mit denen man mutmaßliche Kriminalitätsursachen grundlegend anzugehen glaubte, auf die situationsbezogene Erschwerung von Tatgelegenheiten in pragmatischen kleinen Schritten verlagert (→ §§ 21, 22, 24).

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      Vor diesem Hintergrund geht das Verstehensmodell bei der Klassifizierung des Forschungsgegenstandes einen anderen Weg. Die kriminologische Befassung mit Kriminalität erfolgt danach dreidimensional. Zum einen gilt das Interesse den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im informellen gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle. Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt. Drittens schließlich gilt das Interesse den Regeln, nach denen die möglichen Anwendungen des Gebrauchs der ersten beiden Regeln phänomenologisch in Subkategorien (Gewalt-, Sexual-, Umweltkriminalität usw.) eingeteilt werden können. Die Kriminologie betrachtet diese drei Arten von Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: Nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in ihrer effektiven Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis.

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      Vorerst ist festzuhalten, dass beide Standpunkte in der Kriminologie vertreten werden, wobei das Modell des Erklärens vorherrschend ist, welches die Kriminologie als eine empirische Erfahrungswissenschaft bestimmt. Die Dominanz des Erklärens ist in der Kriminologie naheliegend, da ihr Datenmaterial weitgehend über Kriminalstatistiken verfügbar ist und der Staat als größter Auftraggeber der kriminologischen Forschung (→ § 1 Rn 9 ff.) sich bevorzugt für die quantitativ-vergleichende Bestimmung des Kriminalitätsvolumens und der Wirksamkeit staatlicher Interventionen interessiert.

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      Allerdings werden wesentliche Aspekte des Forschungsgegenstands wie gezeigt nur bei einem Vorgehen sichtbar, das dem Verstehensmodell folgt – denn ein maßgeblicher Teil der Auseinandersetzung mit Kriminalität ist die Beschäftigung mit dem interaktiven Prozess ihrer Konstruktion durch den Beobachter. Einer auf kausale Erklärungen bedachten, rein objektiv und vermeintlich von außen wahrnehmenden Perspektive muss diese Ebene verborgen bleiben.

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      Die Kriminologie setzt sich also (auch) mit den gesellschaftlichen Sinnsetzungen von Normabweichung und Kriminalität diskursiv auseinander, wobei der kriminologische Diskurs nicht vollständig unabhängig von der gesellschaftlichen Verständigung verläuft, sondern auf diesen zurückwirkt und ihn mittelbar beeinflusst. Schon bevor Kriminologen sich mit Kriminalität befassten, war dies ein Thema des alltäglichen Diskurses. Kriminologen greifen ein Thema auf, welches mit Bedeutungen belastet ist, die die „normalen“ Leute ihm beimessen, und sie müssen diese „normalen“ Bedeutungen – nicht anders als die Laien es tun – reinterpretieren, um den Gegenstand ihrer Analyse zu bestimmen.

      [24]30Schaubild 1.1: Erklären und Verstehen

Kausales ErklärenInterpretatives Verstehen
ModellMonistisch:erklärt „Ursachen“ menschlichen Verhaltens wie die verursachenden Faktoren eines NaturgeschehensDualistisch:Sinnhaftigkeit und Intentionalität der „Gründe“ des Handelns von Subjekten müssen anders als eine Naturgegebenheit bestimmt werden
Sozialwelt als GegenstandUnabhängig vom Beobachter als mit ihm nicht kommunizierendes Objekt materiell vorhandenForscher ist mit Sozialwelt reflexiv verbunden: er hat daran Anteil, agiert mit der Forschung in ihr und diese reagiert kommunikativ auf Forschungsergebnisse
BeobachtungErfolgt einseitig: Beobachter → ObjektVerläuft interaktiv: Beobachter ↔ Objekt
MethodeQuantitativ an statistischen Zusammenhängen interessiertQualitativ an der Rekonstruktion

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