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Mitte der 1970er Jahre eine Debatte darüber, ob Kriminalität nach positivistischem Muster zu erklären oder aber in einer nichtpositivistischen Weise zu verstehen sei.

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      Nach dem Verstehensmodell folgt die sozialwissenschaftliche Erkenntnis deshalb anderen Regeln als das naturwissenschaftliche Erklären. Gesellschaftliche Realphänomene sind keine der Beobachtung unmittelbar zugänglichen Objekte. Die soziale Welt ist von Menschen intentional mit Sinn verbunden. In diskursiven Praktiken wird dieser Sinn durch andere soziale Akteure interpretiert, mit anderen Deutungen konfrontiert und möglicherweise neu ausgehandelt. Das Geflecht dieser Bedeutung stiftenden Praktiken schafft ein Verständnis der sozialen Wirklichkeit und macht diese Wirklichkeit für uns verfügbar. Alle sozialen Akteure, welche die betreffende Sprache beherrschen, sind befähigt, Bedeutungen von Dingen zu verstehen, indem sie diese mit ihren eigenen Assoziationen versehen und so sich davon „ihr“ Bild machen.

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      Die alltagsnahe Evidenz der Wahrnehmung eines Verhaltens als Diebstahl bedeutet nicht, dass das Verhalten als Diebstahl gegeben und beobachtbar sei. Die Wahrnehmung ist vielmehr das Ergebnis einer komplexen Deutung des Verhaltens. Dabei werden juristische Deliktsvoraussetzungen wie „Diebstahlsvorsatz“ in Alltagsvorstellungen übersetzt, die wahrgenommene Handlung in ihrer nur aufgrund von Indizien deutbaren Intention – Vorsatz sieht man nicht – in ihrem Sinn bestimmt und dieser Sinn daraufhin bewertet, ob er den laienhaft verstandenen Anforderungen an einen Diebstahl entspricht. Ludwig Wittgenstein (1989-1951) bemerkt dazu in seiner philosophischen Grammatik:

      „Als hätten die Wörter nicht auch ganz andere Funktionen als die Benennung von Tischen, Stühlen u. dergl. – Hier ist die Wurzel des [19] schlechten Ausdrucks: die Tatsache sei ein Komplex von Gegenständen.“38

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      Im deutenden Ausdruck wird das Verhalten nicht exakt abgebildet wie die Blume auf dem Foto, sondern eher wie in einer akzentuierenden Skizze überzeichnend nachempfunden. Menschliches Handeln wird stets in solcher durch Bedeutung gerahmten Form wahrgenommen und ist nur so anderen vermittelbar. Wer die Handlungsbedeutung verstehen will, muss sich mit dieser Sinnsetzung auseinandersetzen, sie teilen oder ihr eine andere entgegensetzen. Daraus ergibt sich

      „[…] der Leitgedanke einer symbolischen, sinnhaften Konstitution der sozialen Welt und des menschlichen Handelns“, demzufolge „die Sozialwelt und ihre Handlungsformen durch kollektive Sinnsysteme konstituiert werden.“39

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      Jede Wahrnehmung der sozialen „Dinge“ beruht auf einem von ihnen gewonnenen persönlichen Eindruck, der das Wahrgenommene wertend nach Belangvollem und Unbedeutendem strukturiert und den Dingen Sinn beimisst. Da die Wahrnehmung sozialer „Dinge“ stets mit subjektiver Sinngebung verbunden ist, kommt auch die Wissenschaft nicht ohne sie aus. Insofern die soziale Welt sich durch diskursive Praktiken bildet und erschließt, muss auch der Forschende diese Praktiken rekonstruieren und dabei auf dieselben Fertigkeiten zurückgreifen, welche diejenigen ausüben, deren Verhalten er zu analysieren versucht. Die Sozialwissenschaft ist deshalb bei der Re-Interpretation ihres durch Vor-Interpretationen sozialer Akteure gebildeten Themas in den Prozess gesellschaftlicher Bedeutungs- und Identitätsstiftung eingebunden und wirkt mit ihren wissenschaftlichen Interpretationen auf den gesellschaftlichen common sense zurück.

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      Dies ist bei der Kriminologie nicht anders. Als Werk und Spiegel der Gesellschaft existiert Kriminalität nicht als objekthaft, nichtkommunizierend und natürlich „sinnlos“ vorhandene Gegebenheit. Kriminalität ist ein „negatives Gut“40, das gesellschaftlich ausgehandelt und mit ausgrenzender Distanz, Stigmatisierung und Beschneidung von Ressourcen assoziiert wird. Das Erkennen von Kriminalität verlangt deshalb, diese Aushandlungen und Assoziationen unter Einbringung des eigenen Vorverständnisses interpretierend nachzuvollziehen.41

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      Die verstehende Perspektive macht deutlich, dass der Mensch und seine Handlungen nicht bloß passives Produkt externer gesellschaftlicher Kräfte sind, auch wenn die Gesellschaft ihn und sein Verhalten prägt. Die „Prägung“ ist eine durchaus [20] wechselseitige, dialektische. Denn soziales Handeln wirkt auf eine symbolisch vermittelte gesellschaftliche Umwelt verändernd ein, die ihrerseits individuelle Reaktionen stimuliert, wobei durch reflexive Verarbeitung von Umwelteinflüssen ein neues Identitätsverständnis geformt wird. Indem das Subjekt als sich entwickelnde Identität die gesellschaftliche Erfahrung, die es macht, strukturiert, schafft es sich gleichsam seine eigene gesellschaftliche Erfahrung. Darum muss menschliches Handeln auf der Basis des Selbstverständnisses der Akteure und der Bedeutung, die sie ihrem Handeln beilegen, nach einem „interpretativen“ Paradigma erschlossen werden. Anders als bei einem Naturgeschehen, das sich durch Bestimmung von Ursachen erklären lässt, geht es hier um das Verstehen menschlichen Handelns.

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      Danach geht es in den Sozialwissenschaften darum, die Bedeutungen und Sinnsetzungen, die Menschen mit ihrem Handeln verbinden, deutend zu rekonstruieren, also gleichsam Bedeutungen von Bedeutungen zu setzen. Diese wissenschaftlichen Bedeutungssetzungen wirken auf den gesellschaftlichen Diskurs über Bedeutungen menschlichen Handelns zurück, geben ihm Anregungen und neue Akzente. In der kreislauf- oder besser spiralförmigen Dynamik dieser Entwicklung reproduziert sich die Gesellschaft stets aufs Neue, stiftet ihre Identität und findet so zu sich selbst.

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      Die unvermeidbar zirkuläre Struktur des Verstehens der Bedeutungen menschlichen Handelns wird gemeinhin als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Dieser ist, um im Bilde zu bleiben, jedoch eher eine weiterführende Spirale als ein fruchtlos sich im Kreise drehendes Gebilde. Denn das anfängliche Verständnis, das Vorverständnis des Interpreten, wird an den vorläufig verstandenen gesellschaftlichen Sinnsetzungen geprüft, die Sinnerwartung gegebenenfalls geändert, diese neuerlich mit gesellschaftlichen Deutungen konfrontiert und so weiter. Fern einer nicht erzielbaren strengen Objektivität gelten dabei die Gebote von Sinnadäquanz und diskursiver Begründbarkeit.

      „Die Soziologie […] hat es mit einer Welt zu tun, die schon innerhalb von Bedeutungsrahmen durch die gesellschaftlich Handelnden selbst konstituiert ist, und sie reinterpretiert diese innerhalb ihrer eigenen Theoriekonzepte, indem sie normale und Theoriesprache vermittelt […] es gibt ein fortwährendes ‚Abrutschen‘ der in der Soziologie geschaffenen Begriffe in den Sprachschatz derer, deren Verhalten mit ihnen eigentlich analysiert werden sollte […].“42

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      Da die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, in den gesellschaftlichen Prozess der Sinnstiftung menschlichen Handelns eingebunden ist, folgt auch sie dem erkenntnisleitenden Prinzip einer „doppelten Hermeneutik“43. Es gilt, sich [21] beim kriminologischen Rückgriff auf das rechtlich und sozial vorinterpretierte Thema Kriminalität die Einbindung der Kriminologie in den nicht zum Ende kommenden Prozess der gesellschaftlichen Re-Interpretation dieses Themas bewusst zu machen. Die wissenschaftlichen Interpretationen dessen haben Rückwirkung auf das gesellschaftliche Verständnis. Dieses Vorgehen lässt sich auch als Reflexivität gesellschaftsbezogenen Erkennens bestimmen, und zwar in einem doppelten Sinne. Zum einen ist die sich über Sinnsetzungen verständigende Gesellschaft reflexiv; zum anderen verdoppelt

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