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Strafen hin zur disziplinierenden Freiheitsstrafe die Herrschaftslogik des modernen Strafrechts verwirklicht, das sich durch subtilere Kontrollmechanismen fortschreitend der Individuen bemächtige.14 Der vernichtende Zugriff auf den Körper wird danach durch die umfassendere und effektivere Vereinnahmung der Seele ersetzt.

      „Das Gefängnis, diese düstere Region im Justizapparat, ist der Ort, wo die Strafgewalt, die ihr Geschäft nicht mehr mit offenem Antlitz zu betreiben wagt, stillschweigend ein Feld von Gegenständlichkeit organisiert, damit die Bestrafung als Therapie und das Urteil als Diskurs des Wissens öffentlich auftreten kann.“15

      14 In Großbritannien kritisiert die radikale Kriminologie den professionellen control talk des crime control establishments als ein Muster, das unter dem Deckmantel von Sozialnutzen, Wohltätigkeit und wissenschaftlicher Notwendigkeit operiere.16 Als von Vertretern des left realism entdeckt wird, dass auch die Opfer von Straftaten [6] sozialen Benachteiligungen ausgesetzt sind, gewinnt die Forderung nach Ersetzung des Strafrechts durch andere gesellschaftliche Umgangsformen mit konflikthaften Situationen an Bedeutung. Die von Skandinavien ausgehende Bewegung des Abolitionismus (Abolition = Abschaffung, Aufhebung, Beseitigung) knüpft an die Abschaffung der Sklaverei an. Die Assoziation, dass in der Sklaverei wie im Gefängnis Menschen wie Tiere gehalten werden, will gegen das Gefängnis einen ähnlichen Sturm moralischer Entrüstung auslösen wie dies der Roman „Onkel Toms Hütte“ gegen die Sklaverei tat. Der Buchtitel „Überwindet die Mauern!“17 steht hierfür als Programm. Aus der Ablehnung der „durchstaatlichten“ Gesellschaft ergibt sich zudem die antietatistische Grundtendenz, soziale Konflikte, aus denen Kriminalität entsteht und die diese verursacht, in ihren unmittelbaren gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang zurückzuverweisen und auf die Selbstheilungskräfte autonomer zwischenmenschlicher Verständigung zu vertrauen.18 In Deutschland werden diese verschiedenen Tendenzen einer kritischen Deutung der Kriminalitätskontrolle vor allem im Kontext des labeling approach (→ § 13 Rn 6 ff.) diskutiert, der auf Kriminalisierungsprozesse statt auf kriminelles Verhalten fokussiert ist.19

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      Inzwischen richtet die kritische Kriminologie ihr Augenmerk auf die zunehmenden Unterschiede von Macht und Wohlstand in einer globalisierten politischen Ökonomie. Risikogeschäfte in internationalen Finanzmärkten, Staatskriminalität und ihre mangelhafte Aufarbeitung, als Polizeiaktionen getarnte militärische Einsätze, die Ursachen des neuen Terrorismus, Umweltschäden, welche von multinationalen Unternehmen zur Gewinnmaximierung systematisch einkalkuliert werden, die Gewalt von Rechtsextremen und die häusliche männliche Gewalt werden auch von der kritischen Kriminologie als bearbeitungsbedürftige Szenarien verstanden.20 Dabei entsteht mitunter ein gewisses Spannungsfeld mit einer staatskritischen, formale Sanktionen ablehnenden Grundeinstellung.

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      Weiterentwicklungen des kritischen Ansatzes finden sich in der feministischen Kriminologie (→ § 9 Rn 33 ff.) sowie in der besonders im englischsprachigen Raum verbreiteten cultural criminology (→ § 13 Rn 28 ff.). Dabei handelt es sich um eine Heranführung der Kriminologie an die Kulturwissenschaften (cultural studies). Kriminalität und ihre Kontrolle werden dabei als Ausprägungen des kulturellen Lebens verstanden – von Lebensstilen, der Dynamik der Massenmedien, gebräuchlichen Riten und Symbolen. Diese Richtung untersucht etwa, wie Polizei, Justiz und Strafvollzug ihre Autorität in Sprachstil, Auftreten und Gebäuden zum Ausdruck bringen oder welche besonderen Kriminalitätsbilder Massenmedien und [7]Politiker vermitteln. Die kriminologischen Themen werden dabei als Wahrnehmungsphänomene verstanden, denen von Tätern, Opfern, Kontrollagenten und Bürgern eine womöglich unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird.21

      17 Im Rahmen des verstehenden Erkenntnismodells hat sich eine theoretische Kriminologie entwickelt, welche Grundlagenforschung betreibt und sich bewusst einer beratenden Funktion für die praktische Kriminalpolitik enthält.22 Die theoretische Kriminologie teilt mit der Mehrheit des radikal-kritischen Lagers die Einschätzung, dass Kriminalität keine Gegebenheit an sich darstellt, sondern sich durch Diskurse der Ausgrenzung bildet. Infolgedessen gilt es, nicht das kriminelle Verhalten, sondern die ordnungsstiftende Funktion des Strafrechts zur erklärungsbedürftigen Variable23 zu machen. Damit wird der traditionelle Bezugsrahmen der Kriminologie in zweifacher Hinsicht überschritten: Die Beschränkung auf die Betrachtung abweichenden Verhaltens wird aufgegeben zugunsten einer Thematisierung auch des (unter anderem) vom Strafrecht zu fördernden konformen, normgerechten Verhaltens. Zugleich wird die Beschränkung auf die Betrachtung der Verhaltensebene ergänzt durch die Thematisierung der auf Ordnungsstiftung abzielenden Normensysteme, von denen das Strafrecht nur eines unter mehreren ist.

      18 Verglichen mit dieser vielfältigen und uneinheitlichen Präsentation des Fachs scheint dessen Gegenstand, die Kriminalität, auf den ersten Blick leichter zugänglich. Wir alle haben dazu illustrierende Alltagsvorstellungen. Indes sollte eine seriöse Bestimmung mehr leisten – und stößt dabei auf erstaunliche Schwierigkeiten. Kriminalität ist nicht direkt anschaubar oder betastbar. Sie verbirgt sich im common sense des Alltagsverständnisses, das wir für eine wissenschaftliche Bestimmung aufbereiten und rekonstruieren müssen. Auf dem Umschlag eines Einführungsbuchs in die Humanmedizin kann das Thema durch die anatomische Zeichnung eines menschlichen Körpers vollständig versinnbildlicht werden. Aber wie sollte man Kriminalität korrekt illustrieren?

      19 Das Wort „Kriminalität“ geht zurück auf das lateinische crimen (Anklage, Beschuldigung), eine Ableitung von cernere (auswählen, entscheiden). Es bedeutet ursprünglich etwas, das ausgewählt und beurteilt wird. Später erfolgte die semantische Einengung auf den förmlichen strafrechtlichen Vorwurf und die Handlungen, [8] auf welche sich dieser Vorwurf bezieht. Etymologisch weist der Begriff Kriminalität zunächst auf eine strafrechtliche Attribution und sodann auf die in dieser Attribution als strafrechtlich relevant bestimmten Handlungen hin. „Kriminalität“ hat also einerseits mit dem Vorgang der Zuschreibung dieser Bezeichnung im strafrechtlichen Vorwurf zu tun und andererseits mit dem Verhalten, auf welches sich diese Zuschreibung bezieht. Dieses in der ursprünglichen Begriffsbedeutung angelegte ambivalente Verständnis der Kriminalität als Verhalten und als Zuschreibung wurde in der Kriminologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und führte zu einem Grundlagenkonflikt zwischen erklärenden traditionellen Richtungen und der neueren Perspektive des labeling approach (→ § 13 Rn 6 ff.).

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      Der Begriff Kriminalität ist einerseits ein ordnender Sammelbegriff, andererseits ein zu emotionaler Distanzierung animierender Unterscheidungsbegriff. Als Sammelbegriff bestimmt er die Gesamtheit der vom Gesetz mit Strafe bedrohten Handlungen unter diesem Gesichtspunkt als artgleich. Als Unterscheidungsbegriff ist Kriminalität negativ besetzt und markiert eine Sinndifferenz zu positiv besetzten Begriffen wie Ansehen, Erwünschtheit, Privileg. Das Wissen über die ordnende und die orientierende Funktion von Kriminalität ist als ein generelles und implizites, jedoch bei Bedarf situativ explizierbares Hintergrundwissen den sozialen Akteuren präsent. Durch Aktivierung dieses Hintergrundwissens lassen sich wahrgenommene Handlungen in einen Vorrat an Unterscheidungen einordnen und Sinnzuschreibungen vornehmen.

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      Für Begriffe wie Kriminalität ist charakteristisch, dass ihr Bedeutungskern nicht fix bestimmt ist, sondern sich je nach seiner Rahmung in einem spezifischen kulturellen Kontext innerhalb des Begriffshofs verschiebt. Die relative Flexibilität der Bedeutung von Kriminalität wird dadurch gefördert, dass das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgegriffen wird. Aufklärerische Philosophen, Anthropologen, Sozialarbeiter, Psychologen, Soziologen, Ökonomen und Strafjuristen gewinnen ihm jeweils eine andere Bedeutung ab, deren Relevanz begrenzt bleibt. Die Pluralität der wissenschaftlichen Anschauungen bewirkt, dass der Rahmen des Themas sich diesen entsprechend anders spannt. Für die einen geht es um biologische Dispositionen, für andere um das persönliche Umfeld, die Sozialstruktur oder um soziale Reaktionen auf Kriminalität.

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      Die offizielle Zuschreibung von Kriminalität erfolgt durch das Strafrecht, dessen Inhalte je nach Zeitalter,

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