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indessen Zweifel, ob die objektivierende quantitative Kriminologie restlos durch interpretativ verstehende Forschung ersetzbar ist. Der Anspruch wertfreier Erkenntnis ist Ausdruck der die Aufklärung und die Moderne beherrschenden Vorstellung von vernunftgemäßer Wissensproduktion zur Gestaltung der Gesellschaft. Von der Vorstellung scheinbar makellos wertfrei gewonnener Befunde geht eine Faszination aus, der die praktische Kriminalpolitik bereitwillig erliegt. Die Magie scheinbar eindeutiger „Fakten“ verleiht dem kriminalpolitischen Argument, das sich darauf bezieht, etwas vermeintlich Objektives und Definitives. Eine wissenschaftliche Betrachtungsweise, die im kriminalpolitischen Diskurs ähnliches Gewicht hätte, ist nicht vorhanden. Nüchtern betrachtet muss man sich deshalb wohl damit abfinden, dass die objektivierende [34] quantitative Kriminologie wegen ihrer Funktionalität für Verwertungsbedürfnisse der praktischen Kriminalpolitik dominant ist. Die sich interpretativ verstehende Forschung gewinnt gleichwohl gerade bei einem kritischen, für unkonventionelle Perspektiven aufgeschlossenen Publikum immer stärkere Bedeutung.

      49 Kaiser 1997, 1.

      50 Kaiser 1997, 9.

      51 Killias 2007, 315, 329.

      52 Sack 2003, 76.

      53 Sack 1996, 297 ff.

      54 Schiller o. J., 192.

      55 Schiller o. J., 243.

      56 Feyerabend 1986.

      57 Nagel 1986.

      58 Bauman/May 2001, 11.

      59 Kaum sind etwa in der Hirnforschung bildgebende Verfahren entwickelt, wird über die Kriminogenese im „Tatort Gehirn“ spekuliert (→ § 7 Rn 23 f.).

      60 Foucault 1976b, 41.

      61 Wittgenstein 1969, Vorwort, vgl. auch Thesen 1, 1.1, 4.023, 7.

      62 Popper 1971, 257.

      63 Naucke 2002, 41.

      64 Giddens 1984, 16 f.

      65 Kunz 1990, 92.

      66 Wittgenstein 1969, These 5.631.

      67 Sartre 1952, 545: „Durch ihre wissenschaftliche Wahrnehmung gewinnt die Gesellschaft von selbst ein reflexives Bewusstsein: sie beobachtet sich, sie beschreibt sich, sie erkennt im Dieb eines ihrer unzähligen Werke; sie erklärt sich durch generelle Umstände. Wenn sie ihre Arbeit beendet hat, bleibt von ihm nichts mehr übrig.“ Diese brillante Analyse aus dem Standpunkt eines „Zuchthäuslers“ war ursprünglich als Einführung zu den gesammelten Werken des wegen Raubes und Päderastie mehrfach inhaftierten Dichters Jean Genet gedacht.

      68 Vgl. den Bildband Schild 1985.

      69 Dazu Ruggiero 2003.

      70 Dostojewskij 1994; Genet 1982.

      71 Baudelaire 1979.

      72 Sling (alias Paul Schlesinger) 1929.

      73 Havel 1984; Gramsci 1988.

      § 4 Geschichte der Kriminologie

      1

      Überlegungen zu den Gründen des Straffälligwerdens und zur sozialen Funktion der Strafe finden sich bereits bei den griechischen Philosophen Plato (427-347 v. Chr.), Aristoteles (384-322 v. Chr.) und Hippokrates (460-377 v. Chr.). Das Mittelalter begreift das Verbrechen als Sünde wider Gott und sperrt sich damit gegen weltliche Kriminalitätserklärungen. Immerhin stützt sich das mittelalterliche Inquisitionsverfahren auf experimentelle Techniken der Gerichtsuntersuchung. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts sind Bemühungen um eine richterliche Erforschung der materiellen Wahrheit durch Leichenöffnung und Leichenschau bekannt. Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina, 1532) schreibt bei Tötung und Kindstötung den Sachverständigenbeweis zur empirischen Abklärung der Verbrechensursache vor. Humanismus und Renaissance vermitteln ein neues säkularisiertes Weltbild, das den Menschen als konkretes Individuum in den Mittelpunkt stellt. Die Säkularisierung erfasst auch das Strafrecht, das sich nunmehr von seinen religiösen Bezügen löst und nach einer weltlichen Begründung der Strafe sucht. Spekulationen über gesellschaftliche Verbrechensursachen lösen erstmals eine Kritik der geltenden Strafpraxis aus. So stellt der Humanist Thomas Morus (1478-1535) die bezeichnende Frage nach der „Herkunft der Diebe“ und schlägt eine vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch Minderung von Armut und Elend vor.74

      3

      Beide Lager finden sich in der Folge zeitversetzt in der Kriminologie vertreten: Während die Klassische Schule der Kriminologie des 18. Jahrhunderts noch beide Erkenntnisinteressen zu verfolgen trachtet, wird im 19. Jahrhundert in der anthropologisch-positiven Schule (→ § 4 Rn 19) ein sozialtechnologischer Umgang mit Kriminalität ausgebildet.

      Lektüreempfehlung: Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M., 93-132; Naucke, Wolfgang (1989): Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria. In: Deimling, Gerhard (Hrsg.): Cesare Beccaria. Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa. Heidelberg, 37-53.

      „Ich stand mitten in der Lektüre des kleinen Buchs über Verbrechen und Strafen, das in der Moral ist, was in der Medizin die wenigen Heilmittel sind, mit denen unsere Übel erleichtert werden können. Ich schmeichelte mir, dieses Werk werde den Rest der Barbarei im Rechtswesen so vieler Nationen verringern; ich hoffte auf einige Reformen im Menschengeschlecht […].“75

      [36]5

      Beccarias Werk, dessen Titel bereits den Zusammenhang des Verbrechens mit der Gesellschaft betont, liest sich heute als eine humanitäre Kritik der sinnlosen Brutalität des menschenunwürdigen Strafrechts seiner Zeit und als Grundlegung eines modernen und effizienzorientierten Strafrechts. Die in einem politisch-philosophischen Räsonnement vorgetragene Kritik wendet sich gegen ein despotisches und irrationales Strafrecht, das Handlungen ohne Rücksicht auf die Verletzung sichtbarer Rechtsgüter pönalisiert. Angeprangert wird die Nutzlosigkeit und Ungerechtigkeit der Todesstrafe und der Folter. Gefordert wird ein für alle gleiches gesetzlich bestimmtes Strafrecht, das

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