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Grundannahme der Aufklärung, dass alle Menschen gleich und frei seien, formt das Menschenbild eines rational und autonom handelnden Individuums. Für das Kriminalitätsverständnis folgt daraus, dass prinzipiell jeder Mensch fähig ist, eine unter Strafe stehende Handlung zu begehen und es keine individuellen Ursachen des Straffälligwerdens jenseits der freien Entscheidung des Täters gibt. Damit werden mögliche täterorientierte Erklärungen des Straffälligwerdens, welche das strafbare Verhalten von Umständen jenseits des freien Willens als abhängig erscheinen lassen, verworfen.

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      Die Ursachen der Kriminalität bestimmt Beccaria vor allem in einer unvernünftigen Gesetzgebung, welche die Zahl der mit Strafe bedrohten Handlungen vermehrt, anstatt sie zu vermindern, die widersprüchliche, für den Bürger unverständliche Gesetze produziert, welche die natürlichen Rechte des Individuums missachtet und die Furcht zwischen den Bürgern steigert. Weitere Ursachen sind eine korrupte Rechtsprechung, ein gesetzlich unzureichend geregeltes Strafverfahren sowie die Begünstigung des Denunziantentums durch geheime Anklagen. Damit sind für Beccaria die Ursachen der Kriminalität im Kriminaljustizsystem selbst, in seiner unvernünftigen und ungerechten Struktur, angelegt. Eine erfolgreiche Verbrechensvorbeugung erfordert deshalb einen grundlegenden Wandel des Strafrechts und seiner Anwendung, ja letztlich der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse.76 Nicht von ungefähr ist Beccarias Mailänder Lehrstuhl der „Politischen Ökonomie und Wissenschaft der Polizei“ gewidmet, wobei „Polizei“, dem griechischen politeia folgend, sich umfassend mit der Innenpolitik befasst.

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      Der Erklärungsansatz Beccarias besitzt Aktualität. Indem er die Verbrechensursachen in kriminogenen Befindlichkeiten des Kriminaljustizsystems und in der gesellschaftlichen Makrostruktur sucht, deutet er die Kriminalität als ein rechtlich und gesellschaftlich produziertes Phänomen, das durch die soziale Reaktion darauf erklärbar wird.

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      Für die von Beccaria geprägte Klassische Schule folgt – anders als für den philosophischen Idealismus Immanuel Kants (1724-1804) – die Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Mäßigung der Strafgewalt aus Nützlichkeitserwägungen. Das Übermaß der Züchtigungen wird weniger als Missbrauch denn als Regellosigkeit und fehlende Ökonomie des Strafens kritisiert. Die Klassische Schule propagiert mit ihrer humanitär motivierten Kritik keine neue Empfindsamkeit, sondern ein neues ökonomisches Kalkül des Strafens, das dessen Wirksamkeit und soziale Akzeptanz erhöhen soll. Die Strafe dient nunmehr zur differenzierten Behandlung der Gesetzwidrigkeiten. Die Willkür und Maßlosigkeit wird ersetzt durch eine proportionale Ökonomie, die nur gerade so viel bestrafen will, wie ausreicht, um Delikte zu verhindern.77 Damit wird die Grundlage für ein präventionsbezogenes und effizienzorientiertes Strafrecht gelegt, das sozialtechnisch bestimmt ist.

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      Diese Entwicklungslinie der Klassischen Schule wird besonders in England weiterverfolgt. Der von Jeremy Bentham (1748-1832) geprägte britische Utilitarismus ist um höchste technologische Strafeffizienz bemüht. In diesem Sinne schlägt Bentham Gefängnisbauten in Form eines die totale Überwachung ermöglichenden Panopticons vor. Für den Utilitarismus sind menschliche Handlungen vom Streben nach persönlichem Wohlergehen und der Vermeidung von schmerzhaftem Leid motiviert. Die Aufgabe des Strafrechts besteht folglich in der Sicherstellung, dass das angedrohte Leid der Bestrafung potentielle Täter von dem mit Straftaten verbundenen persönlichen Gewinn abschrecken wird. Die Vorstellung der Strafe als eine Art ökonomische Lenkungsmaßnahme, die potentielle Täter in ihrer autonomen Entscheidung für oder gegen ein Straffälligwerden beeinflussen könne, wird in der Gegenwart von der neoklassischen ökonomischen Kriminalitätstheorie wieder aufgegriffen (→ § 12 Rn 11 ff.).

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      Die Klassische Schule bildet die Kriminologie noch nicht als eigenständiges Fach aus. Die Befassung mit Kriminalität erfolgt nicht aus Expertensicht, sondern aus der Perspektive einzelner Universalgelehrter und folgt dem zwiespältigen Anliegen einer humanitären und zugleich effizienzorientierten Strafrechtskritik. Bewusst wird auf die Suche nach charakteristischen Merkmalen von Rechtsbrechern verzichtet. Ein Konzept für einen speziell auf Kriminalität bezogenen Untersuchungsansatz fehlt. Das Verbrechen wird als eine allgegenwärtige Versuchung für alle Menschen betrachtet. Differenzierende Erklärungen dafür, warum einige dem Verbrechen verfallen und andere nicht, werden nicht gegeben.

      Lektüreempfehlung: Becker, Peter (2002): Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen, 11-34; Crews, Angela D. (2009): Biological Theory. In : Miller, J. Mitchell (Hrsg.): 21st Century Criminology. A Reference Handbook. Thousand Oaks, 184-200; Debuyst, Christian u. a. (2008): Histoire des savoirs sur le crime et la peine. Tome 1: Des savoirs diffus à la notion de criminel-né. Bruxelles.

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      Eine zunächst ähnlich vorwissenschaftliche Neugier richtet sich auf die aus physikalischen Eigenheiten von Individuen erkennbare naturhafte Veranlagung zum Verbrechen. Die Physiognomie als die Lehre von der charakterlichen Bestimmung eines Menschen durch äußerliche Merkmale wird bereits von Aristoteles praktiziert [39] und erstmals 1586 von Giambattista della Porta (1535-1615) systematisch entwickelt. Ausgangs des 18. Jahrhunderts studiert der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741-1801) die Gesichtszüge hingerichteter Missetäter und leitet daraus eine „Kriminalphysiognomie“ ab.79 Wenige Jahrzehnte später schließt der badische Arzt Franz Josef Gall (1758-1828) aus der Schädelform des Menschen, die sich den je individuell ausgeprägten Hirnteilen anpasse, auf charakteristische Anlagen und begründet mit seiner „Cranioscopie“ genannten Methode die später umfassend auf Gehirn, Veranlagung und Verhalten bezogene Phrenologie.80

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      Die moderne Kriminologie als Fach mit einem systematisch erlangten und wissenschaftlich akkreditierten Wissensbestand entwickelt sich, als im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts das wissenschaftliche Interesse an einer Erklärung der Ursachen von Kriminalität mit den spezifischen administrativen Bedürfnissen des Kriminaljustizsystems zusammentrifft. Die Verbindung des wissenschaftlich auf die Kriminalitätsursachen gerichteten, also ätiologischen, mit dem auf staatliche Kriminalitätsbekämpfung gerichteten gouvernementalen Anliegen erschafft die Kriminologie als Wissenschaft

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