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ihn auch nicht duzen. Wir waren schließlich keine Freunde.

      »Was haben Sie eigentlich mit diesem Cody vor, sobald ich ihn Ihnen ausliefere?« Es fiel mir schwer zu sprechen. Mein Hals war trocken, meine Stimme rau und bei dem Wort ausliefern machte ich in Gedanken Gänsefüßchen.

      Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal was getrunken?

      »Das lass mal meine Sorge sein«, antwortete der Fremde grinsend. »Halt dich an Frau Lamin und an das, was ich dir gesagt habe. Spiel Arrington einfach vor, dass du in ihn verliebt wärst und schaff ihn zu mir. Mehr hat dich nicht zu interessieren. Und damit du mich auf dem Laufenden halten kannst, kriegst du das hier.« Er kramte ein altes Tastenhandy aus seiner Jackentasche und drückte es mir in die Hand. »Da rufe ich dich an, um zu hören wie es läuft.«

      Widerwillig nickte ich und schob das Handy in meine Jackentasche. »Und wer ist Frau Lamin?«

      »Die Schulleiterin vom Läresson Internat. Wir kennen uns gut und sie wird ein Auge auf dich haben.«

      Dadurch hatte er eine der Fragen beantwortet, die ich mir heimlich gestellt hatte. Wie hätte er auch sonst mitten im Schuljahr einen Schulwechsel für mich hingekriegt, wenn nicht eine Direktorin ihre Finger mit im Spiel hatte.

      Ich ballte meine Fäuste, am liebsten wäre ich ihm an den Kragen gegangen.

       Reiß dich zusammen, Lissa.

      Um mich abzulenken, sah ich aus dem Fenster. Wir überquerten unzählige Landstraßen, ehe wir eine Gegend erreichten, die mir bekannt vorkam: Dwergte.

      Im Sommer kamen mein Vater und ich hier ab und zu zum Baden an den See, der ganz in der Nähe war. Wir fuhren sogar am See vorbei und dann auf die Hauptstraße. Tausende Erinnerungen schossen mir durch den Kopf. Erinnerungen an eine Zeit, in der ich noch so unbeschwert gelebt hatte.

      Nach etwa einer Viertelstunde bog der Kerl von der Hauptstraße ab und wir fuhren eine Zeit lang über eine einsame Landstraße. Als wir dann das Ende der Straße erreicht hatten, hielt er vor einem großen grauen Gebäude an. Davor stand ein Schild mit der Aufschrift: Herzlich Willkommen im Läresson Internat.

      Doch anstatt auf dem Parkplatz anzuhalten, fuhren wir weiter in einen Hinterhof. Dort wurden wir von einer Frau erwartet, die ich auf Mitte Vierzig schätzte.

      Ohne sich um mich zu kümmern, stieg der Mann aus, holte meinen Koffer und den Rucksack aus dem Auto und trug alles zu der Frau. Nachdem er die Sachen abgestellt hatte, umarmte er sie und gab ihr einen Begrüßungskuss.

      Das musste wohl die Schulleiterin sein, aber diese vertraute Begrüßung …

      Auch wenn ich absolut kein Bock auf dieses Internat hatte, musste ich zugeben, dass es hier irgendwie gemütlich aussah. Überall im Hinterhof waren kleine Blumenbeete, die schön bunt und gepflegt aussahen. Der Hof wurde durch einen hohen Zaun begrenzt, auf dem sich ganz oben Stacheldraht befand. Dahinter lag ein Wald.

      Weil ich mich neugierig umsah, bemerkte ich erst gar nicht, dass ich beobachtet wurde. Als der Mann mich zu sich und der Frau winkte, setzte mein Herz für einen Moment aus. Ich holte noch einmal tief Luft bevor ich ausstieg. Mit wackeligen Beinen, aber hocherhobenem Kopf, stolzierte ich zu ihnen.

      Die Frau hielt mir die Hand hin und lächelte freundlich, obwohl es auf mich irgendwie unecht wirkte.

      »Hallo Clarissa, willkommen an der Läresson. Mein Name ist Frau Lamin. Ich bin die Direktorin. Ich schätze mal, du hast schon von mir gehört?«

      Ich nickte ihr stumm zu. Meine Hände behielt ich bei mir, anstatt sie ihr zu geben. Allerdings war ich höflich genug, ihr ins Gesicht zu blicken und seltsamerweise kam sie mir irgendwie vertraut vor. Ihre braungrünen Augen erinnerten mich an jemanden, ich wusste nur nicht an wen. Doch ihre grauen Locken, die ihr bis auf die Schultern fielen, passten nicht zu ihrem jugendlichen Gesicht.

      »Ich werde dir gleich dein Zimmer zeigen, wo du dein Gepäck abstellen kannst und dann kannst du auch schon sofort in den Unterricht.«

      Ihre Stimme war nun bedeutend kühler, doch das war mir egal. Passte eh viel besser zu ihr. Außerdem war ich stolz darauf, ihr nicht meine Hand gegeben zu haben. So glaubten die beiden vielleicht, dass ich nicht so hilflos war, wie ich mich fühlte.

      »Sehr gesprächig ist die Kleine ja nicht«, wandte sie sich wieder an dem Mann, der nur die Schultern zuckte.

      Die Frau atmete einmal tief ein, setzte erneut ihr falsches Lächeln auf und drehte sich wieder zu mir.

      »Kommst du Clarissa? Der Unterricht hat schon seit zehn Minuten begonnen.«

      Ich kopierte ihr unechtes Lächeln. »Sicher.«

      Der Mann ohne Namen gab dieser Lamin wieder einen Kuss auf die Wange.

      »Beeil dich, sonst sieht dich noch jemand«, flüsterte sie ihm zu und schob ihn von sich weg.

      Ich hatte es trotzdem gehört und fragte mich, was so schlimm daran wäre, wenn jemand mitbekam, dass er sich hier herumtrieb. War er hier etwa schon bekannt, oder sogar auf der Flucht? Wundern würde es mich nicht.

      Der Mann stieg ohne sich von mir zu verabschieden, ins Auto und fuhr davon. Frau Lamin öffnete eine Tür und machte eine auffordernde Handbewegung, und ich folgte ihr ins Innere des Gebäudes.

      Ich staunte nicht schlecht, als wir die Eingangshalle betraten. Sie war riesig. Der helle Holzboden harmonierte mit der weißen Tapete, an der ein violettes Muster entlangführte. Die Gestaltung ähnelte eher einem Schloss als einer Schule und sah einfach prachtvoll aus. Hätte ich nicht diesen gruseligen Auftrag gehabt, würde ich mich hier vielleicht sogar wohl fühlen, kam es mir in den Sinn.

      »Das ist das Forum. Du kannst dich hier in der Pause aufhalten, wenn es mal regnet«, teilte mir Frau Lamin mit.

      Rechts und links vom Forum führten zwei große weiße Treppen ins obere Stockwerk.

      »Die linke Treppe führt zu den Schlafzimmern der Jungs und die rechte zu denen der Mädchen. Übrigens, der Gang dahinten, zwischen den Treppen, führt zu den Klassenräumen, der Sporthalle und der Cafeteria.« Frau Lamin wandte sich der rechten ziemlich steil wirkenden Treppe zu. »In jedem Stock sind achtzig Zimmer.« Die Schulleiterin setzte ihre Führung fort, während ich mich mit dem schweren Koffer abmühte. Es war eine ganz schöne Herausforderung, den Koffer die lange Treppe hinaufzuschleppen und auch noch den Rucksack auf dem Rücken zu haben, ohne Hilfe, denn Frau Lamin stöckelte vor mir her, ohne mein Stöhnen zu beachten.

      »Du hast Zimmer 316 im dritten Stock.«

      »Wie viele Stockwerke gibt es denn?«, keuchte ich.

      »Drei plus Erdgeschoss.«

      »Gibt es keinen Fahrstuhl?« Ich blieb erschöpft stehen, um kurz Pause zu machen.

      Frau Lamin setzte erneut ihr falsches Lächeln auf. »Siehst du etwa einen?«

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Damit ist die Frage dann wohl beantwortet.«

      Als wir endlich im dritten Stock angekommen waren, mussten wir durch einen langen Gang, der mit den vielen Türen wie ein Hotelflur aussah. Vor der Zimmernummer 316 holte Frau Lamin aus ihrer Rocktasche einen Schlüssel heraus und schloss die Tür auf.

      »Stell dein Gepäck rein und komm dann wieder raus. Sachen einräumen kannst du später noch. Jetzt müssen wir in den Unterricht. Bis zu deinem Klassenraum werde ich dich noch begleiten.«

      Gehorsam stellte ich meinen Koffer und Rucksack ins Zimmer und sah mich rasch um. Es war zwar nicht besonders groß, sah aber ganz gemütlich aus. Es war alles da. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schrank. Durch eine Tür konnte ich sogar ein kleines Badezimmer mit einem Waschbecken und einer Toilette ausmachen.

      Trotzdem hätte ich es lieber gegen mein schäbiges Schlafzimmer zu Hause eingetauscht.

      »Die Duschen sind am Ende des Flures.«

      Die Direktorin hielt mir den Schlüssel hin.

      Nachdem

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