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unsere Lehrerin gelacht, aber so sah ich nur mit tränenverschwommenem Blick zu Abbygail und Cem hinüber. Abbygail runzelte mit ernster Miene die Stirn. Cem jedoch, grinste breit über beide Ohren.

      »Wahrscheinlich hat deine Mutter sich selbst umgebracht, weil sie auch so ein Psycho war wie du«, grölte Antonia lachend.

      Bis auf Abbygail und Frau Steinmeyer lachte die ganze Klasse mit. Sogar meine damals beste Freundin Emma konnte sich das Kichern nicht verkneifen.

      Das gab mir den Rest. Ohne zu zögern ging ich zu meinem Platz und griff nach meiner Tasche. Beim Verlassen des Klassenraumes streckte ich meinen Mittelfinger in die Höhe.

      »Clarissa Sommer, komm sofort zurück! Ansonsten rufe ich deinen Vater an«, hörte ich Frau Steinmeyer mit schriller Stimme hinter mir herrufen.

      Sollte sie doch.

       Kapitel 2

      Schniefend stand ich vor unserem Haus und starrte auf meine Armbanduhr. Es war gerade mal kurz nach zehn.

      Punkt elf verließ mein Vater immer erst das Haus und fuhr mit dem Fahrrad zu seiner Arbeit bei einem Schuster. Ein Auto konnten wir uns nicht mehr leisten, denn nach dem Tod meiner Mutter waren unsere finanziellen Mittel ziemlich geschrumpft. Das merkte man leider auch an unserem Haus, das mit jedem Jahr schäbiger wirkte. Geld für Reparaturen blieb uns nun mal nicht.

      Davor hatte mein Vater in einem Reisebüro gearbeitet. Dort war ihm aber schon vor Längerem gekündigt worden. Mein Vater hatte behauptet, er hätte einige Fehler bei den Buchungen gemacht, als ich ihn nach dem Grund für die Kündigung gefragt hatte. Doch ich wusste, dass er mich anschwindelte. Da er, dank meiner verrückten Geschichte, auch nicht den besten Ruf im Dorf hatte, waren die Kunden lieber woanders hingegangen, um ihre Reisen zu buchen, als sich von dem Mann mit der irren Tochter beraten zu lassen. Dem Inhaber des Geschäfts war schließlich keine Wahl geblieben. Zum Glück hatte mein Vater dann die Stelle bei dem Schuster gefunden, wo er im Hinterzimmer die Schuhe reparierte und niemand ihn bemerkte. Wirklich Freude machte ihm seine Arbeit nicht, doch etwas anderes fand er nicht. Mein Vater litt unter dem Spott des Dorfes noch mehr als ich, und ich bewunderte ihn dafür, dass er mir trotzdem immer den glücklichen Vater vorspielte.

      Leise schlich ich mich hinters Haus und setzte mich dort auf einen großen Stein. Mein Vater durfte auf keinen Fall wissen, dass ich die Schule schwänzte. Im schlimmsten und wahrscheinlichsten Fall würde er mich wieder dorthin zurückbringen. Das wollte ich um jeden Preis verhindern, da er sonst nämlich erfahren würde, dass ich gemobbt wurde. Dadurch würde er sich nur noch mehr Sorgen machen, und die konnte er nicht gebrauchen, denn davon hatte er selbst mehr als genug.

      Ich öffnete meine halb zerfledderte Schultasche, die mehr als einmal durch den Klassenraum geflogen war, und holte ein Buch heraus. Ich hatte es mir aus der Stadtbibliothek ausgeliehen, auch wenn man diese Minibücherei eigentlich nicht wirklich als Stadtbibliothek bezeichnen konnte. Schließlich war Fahrendsberg nicht unbedingt eine Großstadt.

      Beim Lesen verging die Zeit wie im Flug. Das Buch war so spannend, dass ich die restlichen Kapitel in weniger als einer Stunde verschlang. Als ich damit durch war, zeigte die Uhr viertel nach elf. Ich würde mir heute auf jeden Fall noch den zweiten Teil holen. Es war gar nicht unbedingt die Geschichte, die mich so fesselte, sondern mehr die Autorin, die die gleiche Einstellung wie ich, zum Thema Liebe hatte. Sonst mochte ich eine Träumerin sein, aber was die Liebe anging war ich ganz klar Realistin. Mit der Liebe, egal wie toll sie auch sein mochte, war es irgendwann sowieso wieder vorbei. Sie kam und ging. Und wenn sie ging, hatte man nur lästigen Liebeskummer, war depressiv und heulte sich die Augen aus dem Kopf. Nein, danke. Darauf konnte ich verzichten. Ich wollte nie eine Beziehung, schließlich hatte ich schon genug Mist am Hals, mit dem ich mich herumschlagen musste. Da war Liebeskummer echt das Letzte, was ich gebrauchen konnte.

      Ich kramte meinen Schlüssel zwischen den ganzen Schulbüchern hervor und schloss leise die Tür auf.

      »Hallo?«, rief ich, um sicher zu gehen, dass mein Vater auch wirklich zur Arbeit gefahren war. »Jemand da?«

      Nachdem ich keine Antwort erhielt, atmete ich erleichtert auf.

      Ich nahm Weidenkuss erneut aus der Tasche und legte das Buch vorsichtig auf den Küchentisch. Den zweiten Teil würde ich mir dann später holen. Erst einmal musste ich etwas essen und dann hatte ich vor, an meinem Bild weiter zu malen.

      Nach drei Stunden ließ ich erschöpft den Bleistift fallen. Vom ganzen Zeichnen und Radieren hatte ich Kopfschmerzen bekommen. Außerdem wollte ich ja noch in die Bibliothek, die heute auch nicht mehr allzu lange geöffnet hatte.

      Ich holte mein Fahrrad aus dem Schuppen, von dem ich betete, dass es unterwegs nicht in seine Einzelteile zerfiel. Es war schon sehr alt und es fehlten eigentlich so gut wie alle Teile, die ein sicheres Fahrrad ausmachten, wie Klingel, Licht und eine gute Bremse. All diese Teile glänzten durch Abwesenheit.

      Vorsichtig prüfte ich den wackeligen, zerfetzten Sattel. Es schien zu gehen, also trat ich in die Pedale und ächzend setzte sich der Drahtesel in Bewegung. So wie ich herumeierte sah das bestimmt alles andere als elegant aus, denn es war verdammt schwierig, geradeaus zu lenken, da die Wurzeln und Steine auf dem Waldweg, den Lenker hin und her schlingern ließen.

      Als ich endlich den asphaltierten Weg erreichte, kam ich viel schneller voran und hatte den Lenker im Griff. Während ich kräftig in die Pedale trat, bemerkte ich, dass ich mal wieder joggen gehen sollte. Früher war ich jeden zweiten Tag laufen gewesen, doch seit einem halben Jahr fehlte mir einfach die Motivation dazu.

      Völlig verschwitzt und ziemlich erschöpft, stellte ich mein Fahrrad in den Fahrradständer und betrat die Bibliothek. Ich liebte diesen Geruch von alten Büchern, der mir beim Eintreten in die Nase kroch. Zudem fand ich die Atmosphäre zwischen all den Büchern einfach angenehm. Nach meinem Zuhause war das hier mein Lieblingsort.

      Zuerst setzte ich mich an einen der Computer, um zu schauen, in welchem Regal sich das Buch befand.

      Als ich den Titel eintippen wollte, hörte ich plötzlich Stimmen hinter mir, die mir sehr bekannt vorkamen. Ich drehte ich mich um und entdeckte Tamara und Thomas, die ebenfalls vor einem der Computer saßen.

      Auch das noch.

      Wahrscheinlich machte Tamara mal wieder seine Hausaufgaben. Doch sie schienen mich glücklicherweise nicht zu bemerken, denn sie waren total damit beschäftigt über irgendetwas auf dem Bildschirm zu kichern.

      Erleichtert drehte ich mich wieder nach vorn. Als mir der Ort für mein Wunschbuch angezeigt wurde, stand ich auf und schlenderte zu dem entsprechenden Bücherregal. Es dauerte nicht lang, bis ich es fand. Ich ging zurück zu meinem Platz. Als ich die geöffnete Seite am Computer schloss und das Hintergrundbild erschien, schrie ich auf und fuhr zurück.

      Ein animierter zähnefletschender Wolf blickte mich aus seinen rot funkelnden Augen böse an und Wolfsgeheul ertönte aus dem Lautsprecher, das ziemlich nachgemacht klang. Trotzdem erschrak ich noch mehr, weil dieses Geheul einfach ohrenbetäubend war.

      Die Bibliothekarin fixierte mich warnend, während ich hastig auf den Ausschaltknopf drückte.

      Hinter mir hörte ich Gelächter. Mit bösem Blick drehte ich mich um und sah Thomas und Tamara, die sich vor Lachen nicht mehr halten konnten. Unter dem Tisch von ihnen erkannte ich, dass Thomas dieser Blödmann seine Handykamera auf mich gerichtet hatte.

      »Wie witzig«, fauchte ich.

      »Finden wir auch«, prustete Tamara.

      »Ihr seid echt das Letzte.«

      Aber meine Worte schienen die beiden gar nicht zu interessieren. Sie hörten mich vor Lachen wahrscheinlich nicht einmal.

      Voller Wut nahm ich meine Tasche und das Buch und ging damit zum Schalter, gab das alte ab und lieh mir das neue aus. Frustriert stampfte ich aus der Bücherei, stieg auf mein Fahrrad und fuhr nach Hause.

       Kapitel 3

      Um meinen Ärger aus der Bücherei zu vergessen, setzte

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