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      Während mein Vater mit einem zufriedenen Grinsen aus meinem Zimmer verschwand, musste ich erneut an meinen schrecklichen und immer wiederkehrenden Traum denken.

      Obwohl es nun schon fünf Jahre her war, sah ich es immer noch genau vor mir, meine Mutter, das Blut, das Monster.

      Damals war ich zwölf Jahre alt gewesen, und bis heute glaubte mir, bis auf meinen Vater, niemand, was ich damals erlebt hatte. Ich verzog das Gesicht, als ich mich an das Gespräch mit den Polizisten erinnerte. Sie hatten gemeint, ich hätte zu viele Märchen gelesen und sich sogar darüber lustig gemacht.

      Schön wär's, wenn es eine Erzählung von Rotkäppchen gewesen wäre. Schließlich sah der Wolf in dem Märchen tausendmal harmloser als der aus, den ich gesehen hatte.

      Nachdem ich ein Jahr später immer noch dabeigeblieben war, dass das alles wirklich geschehen war, hatte die Sozialarbeiterin vom Jugendamt dafür gesorgt, dass ich in eine Psychiatrie für Kinder und Jugendliche geschickt worden war. Eine Nachbarin hatte es einmal als Besserungsanstalt bezeichnet.

      Ich verzog das Gesicht. Besser war dadurch aber rein gar nichts geworden!

      Im Gegenteil, es waren schreckliche drei Jahre gewesen, die ich hatte dortbleiben müssen. Jeden Tag der gleiche Ablauf: Aufstehen, Frühstücken, Unterricht, Mittagessen, Therapie, Abendessen. Ich war eingesperrt gewesen und hatte meinen Vater entsetzlich vermisst, den ich nur jedes zweite Wochenende hatte sehen dürfen.

      Auch er hatte unter unserer Trennung gelitten. Er hatte seine Frau verloren, seine Tochter war für verrückt erklärt worden und niemand hatte ihm bei all seinen Problemen beigestanden. Plötzlich hatten unsere Bekannten und Verwandten eine neue Nummer gehabt oder aber waren für ihn aus anderen Gründen nicht mehr zu erreichen gewesen.

      Natürlich war auch in unserem Dorf meine Version des Unfalls, wie man den Tod meiner Mutter offiziell bezeichnet hatte, herumgegangen wie ein Lauffeuer. Auch hier waren wir wie Ausgestoßene behandelt worden und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

      Ich glaubte inzwischen, dass die Leute sich nicht aus Bosheit so verhielten, sondern vielmehr aus Angst. Sie glaubten lieber einer schönen Lüge, als einer grausamen und furchteinflößenden Wahrheit ins Gesicht zu blicken.

      Mit knapp sechzehn war ich dann endlich klug genug gewesen, zu behaupten, dass ich damals gelogen und mir die ganze Geschichte nur ausgedacht hatte, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Allerdings hatte mich meine Psychologin nach dieser Aussage trotzdem nochmals zu einer endlosen Zahl von Therapiesitzungen gezwungen. Doch dann, nach einem weiteren halben Jahr, durfte ich endlich zurück nach Hause, zu meinem Vater.

      Und jetzt saß ich hier und dachte über mein beschissenes Leben nach, obwohl ich mich eigentlich schleunigst für die Schule fertig machen musste.

      Seufzend stand ich auf und ging zu meinem Kleiderschrank. Das Erste was mir in die Hand fiel, war ein dunkelblaues T-Shirt, an das ein weißer Rock angenäht war. Das Outfit hatte ich in der Psychiatrie immer tragen müssen. Keine Ahnung, wieso ich es immer noch aufbewahrte. Eigentlich trug es nur schlechte Erinnerungen in sich.

      Ich legte es zurück und entschied mich für ein einfaches weißes T-Shirt und eine dunkle Jeans.

      Danach wusch ich mich, kämmte mir meine langen, kastanienbraunen Haare und trottete die Treppe hinunter in die Küche.

      Mein Vater saß schon angezogen, mit einer Tasse Kaffee und der Zeitung vor sich und einem Marmeladenbrötchen in der Hand, am gedeckten Frühstückstisch.

      »Guten Morgen.« Ich gähnte, streckte mich und ließ mich dann auf einem kleinen wackligen Stuhl ihm gegenüber nieder. Ich wählte ein Körnerbrötchen und schnitt es auf. Nachdem ich sorgfältig Butter darauf geschmiert hatte, klatschte ich eine ganze Scheibe Gouda hinterher und klappte es zusammen.

      Ich war froh, dass mein Vater endlich gelernt hatte, Wurst und Käsescheiben nicht in eine gemeinsame Box, sondern in getrennte zu legen. Als Vegetarierin war Käse mit Wurstgeschmack nämlich nicht sehr appetitlich.

      »Dein Schulbrot ist schon fertig«, schmatzte mein Vater und legte seine angebissene Brötchenhälfte auf den Teller, um einen Schluck Kaffee zu trinken.

      »Danke«, sagte ich und kicherte über seine Essmanieren.

      Die Marmelade, die er sich auf sein Brötchen geschmiert hatte, klebte an seinen Mundwinkeln und seiner Nasenspitze.

      »Papa«, sagte ich lachend, »deine Nase und dein Mund … du siehst so aus, als könntest du nicht essen.«

      Er schielte auf seine Nase, was noch komischer aussah, strich mit dem Zeigefinger einmal darüber und leckte sich den Rest von den Lippen.

      »Schon möglich, aber daran erkenne ich immer wieder, dass du unverkennbar meine Tochter bist.« Er grinste noch breiter als ich, während er mir mit seinem Finger ein bisschen Butter von der Wange wischte.

      Mein Vater war alles für mich. Ein Leben ohne ihn konnte und wollte ich mir einfach nicht vorstellen. Ich kannte keinen Menschen auf der Welt, der mehr Humor hatte als er und das trotz allem, was er an schlimmen Dingen erlebt hatte.

      Doch obwohl er so unbekümmert wirkte, wusste ich, dass ihn der tragische Verlust meiner Mutter noch immer belastete. Ebenso wie die Ausgrenzung durch die Leute in Fahrendsberg.

      Obwohl Mamas Tod nun schon fünf Jahre her war, sah ich ihn gerade in letzter Zeit oft am Tisch sitzen und durch ein altes Familienalbum blättern. Er glaubte wohl, ich würde schon schlafen und nicht sehen, wie er dann weinte.

      Als ich aufgegessen hatte, packte ich mein Schulbrot ein und gab meinem Vater einen Kuss auf die Wange.

      »Bis später, Lissa«, rief er mir hinterher, als ich die Haustür hinter mir schloss.

      Da wir etwas abgelegen wohnten, dauerte mein Schulweg zu Fuß fast eine halbe Stunde. Ich ging ihn eigentlich ganz gern, aber auch nur, wenn es nicht regnete und ich von der Schule kam und nicht hingehen musste. Und da ich mich viel lieber in der Natur, als in der Stadt aufhielt, fand ich es herrlich, dass unser kleines Häuschen mitten im Wald stand. Okay, vielleicht nicht ganz mitten drin, aber auf jeden Fall um einiges von der Hauptstraße entfernt.

      Wie immer, wenn ich auf dem Weg zur Schule war, fragte ich mich, was ich an diesem Ort überhaupt sollte. Eigentlich ging ich nur hin, um einen guten Abschluss zu schaffen, weil ich meinen Vater stolz machen wollte. Ich persönlich war der festen Meinung, keinen Abschluss zu brauchen. Mein Entschluss Malerin zu werden und damit in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten, stand ohnehin fest. Das war mein Traumberuf und ein anderer kam für mich nicht in Frage.

      Ich hatte keine Lust darauf, so wie viele andere Menschen auch, meine wertvolle Zeit mit stumpfsinniger Arbeit in einer Fabrik oder einem öden Büro zu verschwenden. Die Vorstellung, jeden Tag bis zu acht oder noch mehr Stunden immer das Gleiche zu machen, fand ich abschreckend. Mein Ziel war es darum, mein Hobby zum Beruf zu machen und wie meine Mutter später mein eigener Chef zu sein. Sie hatte sich ihre Zeiten selbst einteilen können und gutes Geld mit ihrer Kunst verdient, denn sie war recht bekannt gewesen. Manche Leute waren sogar aus anderen Städten und dem Ausland angereist, nur um ihre Bilder bei Versteigerungen für einen hohen Preis zu erwerben. Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis sich ihr Tod auch in diesen Kreisen herumgesprochen hatte und auch die Geschichte, die ich darüber erzählt hatte. Wäre mir damals bewusst gewesen, dass ich mit meiner Aussage alles und jeden gegen uns aufhetzen würde, hätte ich lieber geschwiegen. In dem Alter hatte ich es aber nun einmal nicht besser gewusst und nicht verstanden, dass meine Geschichte nicht nur die Bilder meiner Mutter im Preis gedrückt hatte.

      Auch meine Mitschüler wussten über das monströse Wolfswesen leider besser Bescheid, als mir lieb war. Seit ich aus der Psychiatrie entlassen worden war und wieder hier zur Schule ging, war ich für alle immer noch die Verrückte, die an Werwölfe glaubte. Dabei habe ich das Tier nie als Werwolf bezeichnet. Es war irgendetwas anderes … Etwas Schlimmeres.

      Wenn meine Mitschüler nicht gerade damit beschäftigt waren, sich fiese Streiche für mich auszudenken, ignorierten sie mich oder lästerten. Sie gaben

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