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von einem Punkt zum nächsten. Ich benutzte immer Punkte, die ich zuerst setzte, so konnte ich die Proportionen besser einschätzen. Beispielsweise war das beim Zeichnen der Augen praktisch.

      Nach knapp zwei Stunden saß ich immer noch an dem Bild. Ich war gerade dabei, die Striche mit meiner Daumenkuppe zu verwischen. So wirkte das Bild gleich viel harmonischer und hatte mehr Tiefe.

      Nachdem ich den letzten Bleistiftstrich vollendet hatte, streckte ich mich. Mein ganzer Rücken knackte und sogar mein Nacken machte Geräusche. Ich fühlte mich wie das Skelett von Dornröschen, das nach hundert Jahren auferstanden war. Skelett deswegen, weil ich mich so ausgehungert fühlte. Langsam trottete ich zum Kühlschrank und öffnete ihn, als plötzlich ein Briefumschlag herausfiel. Als ich mich nach dem Kuvert bückte, protestierte mein Rücken mit einem weiteren Knacken. Verblüfft richtete ich mich wieder auf. Für Clarissa, war da in einer ziemlich unordentlichen Handschrift draufgekrakelt. Im Umschlag ertastete ich eine Art Scheibe. Eine CD oder DVD?

      Neugierig öffnete ich den seltsamen Brief. Ich hatte mich nicht geirrt. Als ich die glänzende Scheibe behutsam zwischen meinem Zeigefinger und Mittelfinger geklemmt, herauszog, fiel ein kleiner Zettel heraus. Ich bückte mich erneut und faltete ihn gespannt auseinander.

      Sieh mich an. Allein!

      Allmählich wurde es mir ein bisschen unheimlich. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache.

      Wer legte denn eine DVD in unseren Kühlschrank?

      Ich sah auf die Uhr. Zwanzig nach fünf. Eigentlich müsste mein Vater schon seit einer halben Stunde wieder da sein. Würde ich es noch schaffen, die DVD anzusehen, bevor er kam?

      Mit der Scheibe in meinen aufgeregt zitternden Händen, lief ich ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Ich stellte den Player auf DVD und legte die Scheibe in das geöffnete Laufwerk. Danach drückte ich mit der Fernbedienung auf Play und es erschien ein kleiner Kreis in der Mitte, der sich drehte. Darunter stand Load. Auch wenn das Laden nur ein paar Sekunden dauerte, kam es mir wie eine halbe Ewigkeit vor.

      Als der Kreis verschwand, war alles schwarz. Hätte ich nicht ein heftiges Schnaufen gehört, hätte ich geglaubt, der Fernseher hätte sich von selbst wieder ausgeschaltet.

      »Was wollt ihr von mir?«, ertönte plötzlich eine bekannte Stimme aus dem Lautsprecher.

      Mir lief es eiskalt den Rücken runter und mein Herz blieb stehen. Die Stimme gehörte meinem Vater!

      Erst jetzt, nachdem schon gefühlte Minuten vergangen waren, tauchte etwas auf dem Bildschirm auf. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen, in der Hoffnung besser sehen zu können und nach einigen weiteren Sekunden erkannte ich Gitterstäbe. Die Kamera schwenkte weiter nach rechts und man sah einen Stuhl, an dem ein kleiner, pummeliger Mann angekettet war. Leider war sein Gesicht komplett verschwommen. Ein kurzer Blitz flammte auf und das Bild wurde endlich scharf. Der Mann in Ketten war tatsächlich mein Vater. Er versuchte vergeblich sich zu befreien, in dem er mit dem Stuhl hin und her wippte. Dabei machten die Ketten ein unerträglich klirrendes Geräusch, das mir in den Ohren weh tat. Allerdings konnte ich nicht nach der Fernbedienung greifen, um den Ton leiser zu stellen, denn ich war vor Angst erstarrt.

      Für einen kurzen Moment wurde der Fernseher wieder schwarz. Danach sah man einen Mann, der auf einem kleinen Hocker, in einem ebenfalls dunklen Raum saß und schelmisch in die Kamera grinste. Er trug einen schwarzen Umhang mit einer Kapuze, unter der ein wenig von seinem schwarzen Haar hervorlugte und seine giftgrünen Augen stachen auffällig aus seinem vampirbleichen Gesicht hervor.

      Ich war mir nicht sicher, ob der Mann Kontaktlinsen trug und seine Augen deswegen im Kameralicht so strahlten oder ob er mit dem grellen Farbton geboren worden war. Aber eigentlich war es auch egal, denn jetzt begann der unheimliche Mann zu sprechen.

      »Hallo Clarissa.«

      Er sprach meinen Namen mit übertriebener Betonung aus. Sein fieses Grinsen behielt er dabei. Auch bei den nächsten Sätzen gingen seine Mundwinkel nicht ein Stückchen nach unten.

      »Ich weiß, dass das alles für dich jetzt erst einmal sehr erschreckend sein mag, also will ich dich auch nicht auf die Folter spannen.«

      Nein, natürlich nicht.

      »Ich habe deinen Vater als Geisel genommen.«

      Ich zitterte am ganzen Körper. Tränen stiegen in mir auf, aber ich versuchte sie zurückzuhalten, denn sonst würde ich nicht hören können, was der Kerl als nächstes sagen würde.

      »Aber du kannst dafür sorgen, dass er bald wieder zu dir zurückkehrt. Alles was du tun musst, ist einen gewissen Cody Arrington dazu zu bringen, sich in dich zu verlieben. Du musst sein Vertrauen gewinnen, und wenn du das geschafft hast, lockst du ihn zu mir und kriegst dafür deinen Vater. Fairer Tausch, nicht wahr?«

      Nein, war es nicht! Außerdem machte mich sein widerliches Grinsen wahnsinnig.

      Ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Am liebsten hätte ich mit meiner geballten Faust in den Fernseher geschlagen. Doch die Wut verwandelte sich gleich im nächsten Moment in Verzweiflung und ein Schwächegefühl überkam mich. Wie konnte er das meinem Vater nur antun?

      »Doch es gibt ein paar Bedingungen. Du musst morgen früh um Punkt sieben mit deinen gepackten Koffern vor der Eisdiele an der Donaustraße stehen, denn du wirst ab morgen auf das Läresson Internat gehen. Mit der Anmeldung ist bereits alles geklärt. Einzelheiten erfährst du morgen früh. Und du musst den Mund über das alles halten. Wenn du irgendjemanden dieses kleine Filmchen zeigst, davon erzählst oder gar zur Polizei gehst, schwöre ich dir, dass du deinen Vater nicht mehr lebend wiedersehen wirst. Nur damit das klar ist!« Bei dem Satz mit der Polizei, hatte er sein Grinsen gegen eine ernste Miene ausgetauscht.

      Der Bildschirm wurde schwarz, bis noch einmal kurz mein Vater eingeblendet wurde. Er blutete. Das Blut lief ihm von seiner Schläfe aus über die ganze rechte Wange, bis zum Hals, wo die Spur dann in seinem dreckigen T-Shirt endete.

      »Noch irgendwelche letzten Worte?«, erkundigte sich diesmal eine spöttisch klingende Frauenstimme.

      »Lissa«, keuchte mein Vater völlig außer Atem, »mach dir um … um mich keine … Sorgen. Alarmiere die Polizei und …«

      Hier brach der Film ab und auf dem Fernseher erschien wieder das Menü. Der Pfeil zeigte auf Enter. Ich warf die Fernbedienung, die ich immer noch in der Hand hielt, auf das andere Ende des Sofas und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

      Es hatte sich so viel Wut und Verzweiflung in mir aufgestaut, die einfach nur raus wollten, doch mir fehlte die Kraft in den Beinen, um aufzustehen. Alles was ich jetzt noch konnte war heulen. Und das tat ich.

      Ich wischte mir die letzten Tränen aus meinem Gesicht und atmete tief aus. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Insgeheim hoffte ich, dass aus irgendeiner Ecke doch noch ein Kamerateam rausspringen und reingelegt rufen würde. Doch das passierte nicht. Nach weiteren zwanzig Minuten, in denen ich vor mich hinstarrend auf dem Sofa hockte, gab ich es auf, auf Erlösung zu warten.

      Mein Vater war irgendwo in den Händen von Entführern. Damit musste ich mich abfinden.

      Nur, was sollte ich jetzt bloß machen?

      Zur Polizei gehen, kam für mich gar nicht in Frage. Ich hatte ja gehört, was sonst passieren würde und das konnte ich auf keinen Fall riskieren. Mein Vater war nach dem Tod meiner Mutter der einzige Mensch auf der Welt, der immer für mich da war. Ich würde ihn auf keinen Fall im Stich lassen!

      Immer noch benommen, stand ich auf und wankte ins Badezimmer. Erschrocken betrachtete ich mein Spiegelbild. Meine Haare standen mir zu Berge und aus meiner Unterlippe tropfte etwas Blut, weil ich so doll drauf gebissen hatte. Außerdem waren meine Augen verquollen und mein Mascara völlig verschmiert. Ich sah aus, als hätte ich eine ganze Woche lang nicht geduscht und unter einer Brücke geschlafen … und so fühlte ich mich auch.

      Mit zitternden Händen lehnte ich mich auf das Waschbecken und blickte in meine hellblauen Augen, die die Tränen

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