Скачать книгу

Kaffee zu holen. Carl legt das Schwarz-Weiß-Foto auf den Tisch und beobachtet ihn.

      „Willst du einen?“

      „Nein danke.“

      „Du machst ebenfalls einen intelligenten Eindruck.“ Leonard schaufelt auch dieses Mal drei Löffel Zucker in die Tasse. „Wie kommt es, dass du nicht mit deiner Freundin zusammen Informatik studierst oder etwas Sinnvolleres machst, als Filme in einem Kino vorzuführen und abzufilmen? Es war doch bestimmt nie dein Wunschtraum, als Filmpirat Karriere zu machen?“

      „Das ist eine lange Geschichte, die dich wahrscheinlich nicht allzu sehr interessiert.“

      Leonard rührt den Kaffee mehrmals um. Danach wirft er den Löffel gekonnt ins Spülbecken. Gelassen trottet er an den Tisch zurück. „Wir haben sicherlich ein wenig Zeit. Wie ich Simon kenne, wird er eine Weile beschäftigt sein, die Bonzen der Produktionsfirma zu hofieren.“

      „Das macht die Story meiner Jugend nicht spannender.“

      „Warum so schüchtern? Es interessiert mich, wie jemand vom nerdigen Teenager zu einem der einflussreichsten Raubkopierer Europas wurde.“

      „Du überschätzt mich“, erwidert Carl mit einem Lächeln, „so wichtig bin ich dann doch nicht.“

      „Das glaubst aber nur du. Wie hat es damals angefangen?“

      Grinsend blickt er den Asiaten an. „Lange bevor ich zu Hause Internet hatte oder überhaupt wusste, was das Internet genau ist“, beginnt Carl, „habe ich mit meinen Freunden Computerspiele, Anwendungssoftware und auch die ersten digitalen Formen von Musik und Filmen getauscht. Für uns war es selbstverständlich Daten und Wissen zu teilen und zu verbreiten. Doch dann kam das Internet und alles wurde anders. Alles wurde gigantisch! Mit einem Mal mussten wir nicht mehr warten, bis einer von uns ein Spiel gekauft oder ein paar Disketten von Freunden bekommen hatte. Alles war sofort irgendwo zu haben! Man musste nur verstehen, wo man danach suchen konnte. Ich stand mit einem Mal in einem Selbstbedienungsladen, in dem es außer einer Kasse alles gab. Plötzlich war ich nicht mehr der komische, einsame Spinner, der seine Tage und Nächte vor einem PC verbrachte. Mit einem Mal war ich der Typ, der gefragt und sogar cool war, da er die neusten Spiele oder Programme besorgen konnte. Richtig intensiv ging es aber erst kurz vor dem Abi los, als wir mit einem Mal sehr viel Zeit zur Verfügung hatten.“

Tage der Unschuld

      0b0000111: [Die Unschuldigen]

      Mit geschulterter Sporttasche und Sonnenbrille im Haar schlendert Vincent über den tristen, ausladenden Pausenhof. Aufgrund des weißen Oberhemds und des dunklen Jacketts sticht er zwischen den Mitschülern deutlich hervor. Selbst unter den Klassenkameraden der Oberstufe bleibt sein Kleidungsstil die Ausnahme. Mehrmals schaut er sich zu den beiden Lehrerinnen der Pausenaufsicht um. Wie so häufig stehen die älteren Damen gemeinsam vor der breiten Treppe zur Aula, rauchend und in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Die beiden interessieren sich kaum für die Schüler um sie herum. Vincent bleibt für einen Moment stehen. Mehrere Jungs aus der Mittelstufe beobachten ihn aus einiger Entfernung. Nachdem er Carl am Rande des Pausenhofs auf einer kahlen Betonbank vor einer Reihe frisch gepflanzter Birken entdeckt, gibt er den Jungs einen Wink. Sie folgen ihm zur Bank. Zwischen Carls Füßen lehnt ein prall gefüllter Rucksack am Beton. Er hebt die Hand zum Gruß.

      „Servus! Wie geht’s?“, erwidert Vincent.

      „Bestens!“

      „Hast du alles dabei?“

      Carl deutet mit der flachen Hand auf den Rucksack.

      „Super!“ Ohne zu zögern, stellt Vincent seine Tasche neben ihm auf der Bank ab. Unterdessen treffen die anderen Mitschüler ein.

      „Hallo, Leute! Hi, BlitzKey!“, begrüßt sie Carl.

      „Servus, Alter!“, erwidert BlitzKey, der die rotbraunen Haare zu einem zotteligen Pferdeschwanz zusammengebunden hat.

      „Ich hab deine Disketten dabei.“

      „Großartig! Was willst du dafür?“

      „Passt schon, du hattest noch ein paar Floppies von den letzten Savegame-Editoren gut.“

      Während sich eine Traube von jungen Männern und pubertierenden Jungs um die drei Freunde bildet, öffnet Carl den Rucksack.

      „Es ist so weit! Der Shop hat geöffnet“, verkündet Vincent.

      Die Runde antwortet mit allgemeinem Gelächter. Nachdem er sich nochmals umgesehen hat, holt Carl einen ersten Stapel selbst gebrannter CDs hervor. Auf jeder Hülle klebt ein Post-it mit dem Namen des Empfängers und dem Preis. Ein Käufer nach dem anderen reicht ihm den vereinbarten Kaufpreis in zehn oder zwanzig DM-Scheinen.

      „Bestellungen für nächste Woche nehme ich entgegen, sonst einfach bis Freitag mit Carl oder mir quatschen“, erinnert Vincent die Kunden.

      „Nicht vergessen! Ausreichend Floppies mitbringen, falls euch CDs zu teuer sind“, ergänzt Carl.

      Aus der Runde erklingt zustimmendes Geraune. Erst nach dem Pausengong verschwinden die Schüler mit ihren CDs und Disketten in Richtung Klassenzimmer. Nur Vincent und BlitzKey bleiben neben Carl sitzen. Dieser zählt das kleine Geldbündel nach und zahlt Vincent seinen Anteil aus.

      „Das hat sich heute aber für euch gelohnt“, stellt BlitzKey fest.

      Carl schüttelt den Kopf. Er packt das Geld in die Hosentasche. „Zurzeit läuft’s eher mäßig. Es gibt keine interessanten Games.“

      „Yep, da hast du leider recht! Falls ihr beiden nächstes Wochenende Zeit und Lust habt, könnt ihr bei mir auf eine Netzwerk-Session vorbeischauen. Hab gerade sturmfrei, da meine Alten auf einem Wellnesstrip sind.“

      „Das klingt vielversprechend! Ich komme auf jeden Fall“, antwortet Vincent.

      „Wie sieht’s bei dir aus, Carl?“

      „Müsste schon hinhauen.“

      „Super! Ich hätte nämlich nix dagegen, wenn du mir ein bisserl mit dem Netzwerk aushilfst.“

      „Soll ich eine Kiste als Server mitbringen?“

      „Das wäre saugeil, dann könnte ich ein paar mehr Leute einladen.“

      „Wer kommt sonst noch?“, fragt Vincent.

      „Bisher haben nur Thorsten und Martin zugesagt. Die meisten Jungs aus der K13 wollen lieber fürs Abi lernen. Auf meine Nasen aus der Zwölften habe ich aber weniger Böcke!“

      „Das klingt schon mal nach Spaß“, erwidert Carl.

      BlitzKey wirft einen ungeduldigen Blick auf die große Uhr auf dem Pausenhof. Sie zeigt 11:29 Uhr an. „Müsst ihr nicht rein?“, fragt er die anderen.

      „Ich habe montags die fünfte Stunde immer frei“, frohlockt Vincent.

      „Hab eigentlich Musik-Grundkurs, aber da ich dieses Semester nicht fürs Abi brauche, spar ich mir den Blödsinn.“

      „Boah! Ihr Säcke habt ein Leben! Wir sehen uns. Muss leider zum Mathe-Leistungskurs.“ Die Jungs verabschieden sich per Handschlag, als der zweite Gong zum Beginn der fünften Unterrichtsstunde ertönt. BlitzKey hastet über den Hof zum Seiteneingang des Hauptgebäudes. Abgesehen von Vincent und Carl halten sich weitere Kollegiaten im Raucherbereich unter der Uhr auf, die ebenfalls schwänzen oder freihaben. Vincent rutscht zu Carl und zeigt ihm die Notizen mit den Bestellungen.

      „Sieht so aus, als hätten wir dieses Wochenende nicht nur etwas auf der LAN-Party zu tun.“

      „Hast du alles von der Liste?“

      „Muss ich erst zu Hause checken, aber nichts davon ist schwer zu finden.“

      „Du musst mir unbedingt mehr von den guten FTP-Servern verraten. Seitdem du ständig im Netz rumhängst,

Скачать книгу