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sah Joel auf die Grafik und schüttelte mit dem Kopf.

      „Ich verstehe das nicht. Wieso ist es bisher niemandem aufgefallen? Seit Wochen liegt mir unsere Buchhalterin in den Ohren, weil ich mehr Geld für den Einkauf von Stoffen ausgegeben habe. Doch noch nie hat sie erwähnt, dass es Probleme bei den Verkäufen gibt.“

      „Vielleicht wäre es ihr aufgefallen, wenn sich durch dich nicht die Ausgaben geändert hätten“, sagte Juan nachdenklich, ohne seinem Bruder die Schuld daran zu geben. „So hat sie wohl angenommen, du wärst schuld daran. Ariadne kümmert sich in erster Linie um die Gehälter der Mitarbeiter und die Rechnungserstellung für den Vertrieb. Um die Einnahmen aus dem Fabrikverkauf kümmert sich jemand anderes, da sie über eine andere Kostenstelle abgerechnet werden. Im Grunde hat Ariadne daher nur gesehen, dass das Guthaben der Firma schrumpft, jedoch nicht, warum.“

      „Tja, und weil sie mich für einen Schmarotzer hält, der das Geld seiner Eltern zum Fenster rauswirft, hat sie natürlich mir die Schuld gegeben. Kein Wunder, dass sie im Moment so sauer ist. Sie muss ja wirklich denken, ich wirtschafte die Firma in den Ruin.“

      Juan nickte und betrachtete seinen Bruder mit einem ernsten Blick.

      „Leider. Papà wollte Ariadne einen Gefallen tun, als er diesen Bereich an einen anderen Mitarbeiter abgegeben hat. Doch wenn ich mir diese Zahlen so anschaue, war dies ein großer Fehler. Sie hätte schnell erkannt, was hier nicht stimmt und Alarm geschlagen. Stattdessen hat Ariadne dich beschuldigt, weil sie keinen Zugang zu den richtigen Daten hatte.“

      „Und was machen wir jetzt?“, wollte Joel wissen, während er sich selbst verfluchte. Wieso habe ich mir ihre Berichte immer nur flüchtig angesehen? Wenn ich genauer hingeschaut hätte, wäre mir vielleicht schon früher aufgefallen, dass etwas nicht stimmen konnte.

      „Keine Ahnung“, sagte Juan angespannt. „Auf jeden Fall müssen wir uns so schnell wie möglich einen Überblick verschaffen. Ich werde noch heute mit Ariadne reden und sie bitten, sich unsere Zahlen und die aus den Verkaufsfilialen einmal genauer anzuschauen. Gleichzeitig habe ich Alexander und Raphael gebeten, am Freitag zu einem Krisentreffen nach Dornbirn zu kommen.“

      „Was ist mit Christian?“, warf Joel ein und dachte an ihren anderen Cousin, der für die Leitung der de-Luca-Farm verantwortlich war. „Zwar ist er nicht direkt von den sinkenden Verkäufen betroffen, doch er beliefert uns immerhin mit Angorawolle. Wenn wir in finanzielle Schwierigkeiten kommen, wirkt sich das früher oder später auch auf seinen Bereich aus.“

      Juan nickte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.

      „Du hast recht. Ich werde ihn gleich anrufen“, sagte Juan und stand auf.

      Kurz bevor dieser die Tür erreichte, kam Joel noch ein Gedanke und er hielt seinen Bruder zurück.

      „Warte! Sollten wir es nicht auch unseren Eltern erzählen?“

      Juan schüttelte den Kopf und sah seinen Bruder mit ernster Miene an.

      „Das halte ich für keine gute Idee. Wenn Papà von den Problemen erfährt, wird er wahrscheinlich sofort seinen Erholungsurlaub abbrechen und mit Mamma nach Österreich zurückkommen. Das wäre ein großer Fehler. Er ist noch nicht so weit. Wenn er jetzt sofort wieder mit der Arbeit beginnt, hat er in Kürze gleich wieder einen Herzinfarkt. Wir müssen das alleine regeln und hoffen, dass alles wieder in Ordnung ist, wenn er aus Italien zurückkehrt.“

      Dagegen konnte Joel nichts sagen. Auch er wollte nicht, dass sich die Geschichte wiederholte. Trotzdem war ihm nicht wohl dabei, die aktuelle Situation vor seinen Eltern zu verschweigen. Als sein Bruder kurz darauf das Zimmer verließ, ging er nachdenklich an seinen Schreibtisch zurück. Sie mussten einfach einen Weg finden, das Unternehmen zu retten. Den Verlust seiner Fabrik würde sein Vater nicht verkraften.

      Immer noch wütend, aber mehr auf sich selbst, ging Ariadne in ihr Büro zurück. Verdammt, ging es ihr durch den Kopf. Ich bin zu weit gegangen. Noch bevor sie ihre Worte ausgesprochen hatte, war ihr das klar gewesen. Doch sie wollte einfach nicht stumm dabei zusehen, wie Joel de Luca die Firma seines Vaters in den Ruin trieb. Sie verdankte Valenzo de Luca so viel. Ohne ihn würde sie wahrscheinlich heute hinter einer Kasse stehen und Kunden abkassieren.

      Als sie mit nur 16 Jahren ihr Abitur gemacht hatte, stand ihre Zukunft eigentlich fest. Ihre Eltern, die nicht bereit gewesen waren, für ein Studium ihrer Tochter aufzukommen, wollten, dass diese sich einen Ausbildungsplatz suchte. Ariadne, die am liebsten mit Zahlen arbeiten wollte, hatte sich für eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau in der de-Luca-Designfabrik entschieden. Schnell hatte sie jedoch gemerkt, dass sie mit den Aufgaben völlig unterfordert war, und hatte ernsthaft darüber nachgedacht, ihre Ausbildung abzubrechen. Doch dann war ihr der Zufall zur Hilfe gekommen. In der Buchhaltung hatte es Probleme gegeben, doch der ehemalige Leiter konnte die Ursache nicht finden und war völlig verzweifelt gewesen. Ariadne hatte ihre Hilfe angeboten und bereits nach wenigen Stunden den Grund dafür gefunden. Es war nur ein simpler Zahlendreher gewesen, welcher jedoch ihr Leben nachhaltig verändert hatte. Denn durch diese Aktion wurde Valenzo de Luca auf seine junge Auszubildende aufmerksam. Er hatte erkannt, dass Ariadne ein sehr großes Potenzial besaß und auf dem Gebiet der Buchhaltung eine größere Bereicherung wäre. Nur kurze Zeit später hatte sie sich auf der FH Vorarlberg in Dornbirn wiedergefunden und konnte mit dem Bachelorstudium in Internationale Betriebswirtschaft beginnen. Gleichzeitig hatte sie stundenweise in der Buchhaltung der de-Luca-Designfabrik gearbeitet, um praktische Erfahrungen zu sammeln. Fünf Jahre später, nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Masterstudiengangs in Accounting, Controlling & Finance, wurde sie fest als Buchhalterin eingestellt. Und als der Leiter der Buchhaltungsabteilung in den Ruhestand ging, löste Ariadne ihn mit nur 22 Jahren als neue Abteilungsleiterin ab.

      Als Ariadne vor ihrem Büro ankam, kehrte sie in die Gegenwart zurück. Frustriert ging sie hinein und setzte sich an ihren Schreibtisch. Ich muss irgendetwas tun, dachte sie angespannt. Diese Fabrik war mehr als nur ein Arbeitsplatz für sie. Es war ihr Zuhause. Sie kannte alle Mitarbeiter seit vielen Jahren und liebte die familiäre Atmosphäre in dem Betrieb. Doch Joel de Luca machte alles kaputt. Nicht nur, dass er viel zu viel Geld ausgab, er war auch noch Schuld an den Streitigkeiten zwischen den Angestellten. Erst letzte Woche hatte Ariadne gesehen, wie sich die beiden Verkäuferinnen des Fabrikverkaufs in einen der Gänge lautstark um den Juniorchef stritten. Beide hatten Interesse an dem jungen Mann, der mit seinen schwarzen schulterlangen Haaren und dem goldenen Ohrring im linken Ohr sehr verwegen aussah. Gut, dafür konnte er im Grunde nichts. Doch wenn er sich im Umgang mit den Angestellten von Anfang an etwas zurückgehalten hätte, wäre es nie so weit gekommen. Vielleicht sollte ich Valenzo und Sophia in Italien anrufen, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Wahrscheinlich wissen sie gar nicht, was ihr Sohn in der Firma treibt. Doch Ariadne verwarf die Idee sofort wieder. Sie konnte nicht zulassen, dass ihr Chef sich aufregte und dadurch eventuell einen weiteren Herzinfarkt bekam. Sie musste einfach selbst etwas tun, um die Firma zu schützen. Am besten sie sprach mit Juan. Dieser würde seinen Bruder schon zur Vernunft bringen.

      Ein plötzliches Klopfen an der Tür riss Ariadne aus ihren Gedanken. Schnell legte sie einen Ordner vor sich auf den Tisch und öffnete ihn, damit es so aussah, als hätte sie konzentriert gearbeitet. Denn ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass seit ihrem Besuch bei Joel de Luca bereits eine halbe Stunde vergangen war. Und es sah ihr gar nicht ähnlich, sich so ablenken zu lassen.

      Als es ein zweites Mal klopfte, sagte sie schnell „Herein“. Kurz darauf kam Juan de Luca in ihr Büro und sah sie fragend an.

      „Ist alles in Ordnung?“, wollte er verwundert wissen. „Du hast auf mein erstes Klopfen gar nicht reagiert.“

      Ariadne setzte eine neutrale Miene auf, damit er ihre Anspannung nicht sah.

      „Juan. Entschuldige, ich war gerade ziemlich in meiner Arbeit vertieft, da habe ich das Klopfen gar nicht gehört. Was kann ich für dich tun?“

      „Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen“, sagte er ernst und setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl.

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