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Die Sagen und Volksmärchen der Deutschen. Friedrich Gottschalck
Читать онлайн.Название Die Sagen und Volksmärchen der Deutschen
Год выпуска 0
isbn 9783750214132
Автор произведения Friedrich Gottschalck
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sehnsucht nach Freude, Freiheit, Ordnung,
Licht und Recht; und sie sind überall zu Hause, wo
Menschen denken, betrachten, empfinden und gesellig
leben. Sie entstehen wie von selbst, sie verändern, sie
erneuern sich, und wenn nicht Dichter, Chroniken-
Schreiber oder Sammler sie für längere Zeit festhalten
und aufbewahren, verschwinden sie auch wieder, wie
von selbst und oftmals ohne Spur; wie denn, zum Beweise
dieser Behauptung, von dem ganzen großen Sagenkreise
altdeutscher Vorzeit außer den wenigen
Bruchstücken, die uns alte Gesänge und das Heldenbuch
bewahrt haben, wohl nur wenige oder gar keine
Ueberbleibsel in lebendiger Ueberlieferung mehr gefunden
werden möchten.
Was es jedoch mit den einzelnen noch vorhandenen
Sagen für eine Bewandniß habe; welchen geschichtlichen,
örtlichen oder anderweitigen Veranlassungen
sie ihre Entstehung verdanken mögen; wann und wo
sie zuerst erfunden seyn können; in welcher Verbindung
die Sagen einzelner Provinzen und ganzer Länder
mit einander stehen, wie sie gewandert, verändert
und umgestaltet sind; wie weit die Erzählungen von
bestimmten fabelhaften Wesen und Personen reichen
u.s.w., dieß alles sind Fragen, welche von Wißbegierigen
leicht aufgeworfen werden können, und deren
Beantwortung schon an andern Orten und namentlich
in den »Volkssagen von Nachtigall in Halberstadt«
ausführlich und geistreich versucht worden ist. Auf
jeden Fall aber bleibt es ausgemacht, und erhellet
auch zur Genüge aus dem oben Gesagten, daß die
ganze Geschichte eines Volks, seine Abstammung,
Wanderungen und Schicksale, ferner die verschiede-
nen Zustände von Rohheit und steigender Ausbildung,
seine Verfassung, Sitten, Religion, Regierungsart,
das Klima und die Beschaffenheit seiner Wohnsitze,
seine Armuth oder Wohlhabenheit, und endlich
seine Bedürfnisse, Ansprüche und Wünsche auch auf
die Sagen desselben den mannigfaltigsten und bestimmtesten
Einfluß werden äußern müssen, und daß
daher ein scharfsichtiger Beobachter und aufmerksamer
Prüfer auch umgekehrt aus Inhalt, Art, Ton, und
Farbe der einzelnen Sagen treffende Rückschlüsse auf
Zeit, Ort, und Veranlassung ihrer Entstehung wird
machen können. Es ist begreiflich, daß die Mythen roherer
Völker auch ein wilderes, kriegerisches, aber
mehr wunderbares und religiöses Gepräge zeigen werden,
daß die Sagen südlicher Nationen freundlicher,
reicher, üppiger und sinnlicher, die der nördlichen
hingegen düsterer, trüber und ahndungsvoller erscheinen
müssen; daß unter freien, glücklichen und wohlhabenden
Völkern auch die Mährchen heiterer und
scherzhafter, bei ärmeren und gedrückteren aber trauriger,
klagender und mißmuthiger seyn werden; daß
ferner gebirgige Gegenden deren mehr und mannigfaltiger
besitzen müssen als das ebene Land, und endlich,
daß es, wie schon mehrmals bemerkt worden ist,
vor allen Dingen die Zeit sey mit ihren Veränderungen
und Fortschritten, mit ihren religiösen und politischen
Reformen und Umwälzungen, vorzüglich aber
mit ihren Ansichten und Ansprüchen, Wünschen und
Hoffnungen, welche entscheidend auf dieselben werde
gewirkt haben. –
Wenn es nun aber eine Zeit gäbe, oder gegeben
hätte, in welcher die Menschen sich gar wohl und behaglich
gefühlt hätten, worin sie mit ihren friedlichen
und glücklichen Lagen und Verhältnissen, hauptsächlich
aber mit dem Zustande ihrer Bildung, mit ihrer
Einsicht, ihrer Weisheit, ihren Empfindungen und Urtheilen
höchlich zufrieden gewesen wären, welche sie
selbst als eine vortreffliche und überlegene Zeit zu betrachten
und zu preisen sich nicht hätten erwehren
können, und von welcher aus sie die verflossenen Zeiten
nicht bloß zu eigener Genugthuung vornehm betrachtet,
sondern auch deren Thaten, Arbeiten und Bestrebungen
einer neuen Prüfung und verständigen
Sichtung zu unterwerfen für nöthig erachtet hätten, so
würde eine solche Zeit begreiflicher Weise der Poesie
eben nicht günstig gewesen seyn. Wozu hätte sie auch
in ihrer eigenen Vortrefflichkeit diesen schöneren Gegensatz
einer unvollkommenen Wirklichkeit, dieses
erfreuliche Bild eines besseren Lebens, diese hülfreiche
und tröstenden Begleiterin des beschränkten Daseyns
eben gebrauchen können. Wenn sie aber dennoch
der Poesie, als einer angenehmen Zugabe, eines
herkömmlichen Luxus des Lebens, etwa zur Uebung
des Urtheils und Witzes, oder zu gelegentlicher Er-
wärmung der Empfindung nicht ganz hätte entbehren
wollen; so würde sie doch gewiß nicht unterlassen
haben, derselben eine neue angemessene Richtung zu
ertheilen. Sie würde also zuvörderst das Alterthümliche
und hauptsächlich alles Wunderbare daraus verbannt,
und sie sodann angewiesen haben, sich in allen
Stücken, so viel wie möglich, an die wirklichen Zustände
des Lebens, an die sogenannte Natur und
Wahrheit zu halten, und sich in Form und Inhalt einer
getreuen Nachahmung derselben zu befleißigen,
indem es ja nur darauf abgesehen sey, durch die erdichteten
Darstellungen zu einer recht täuschenden,
schnellen und vielseitigen Berührung mit der geliebten
Wirklichkeit zu gelangen.
Wir kennen sie; und haben sie zum Theil erlebt,
eine solche eigenliebige, an sich selbst verschwendete
und zersplitterte Zeit, und ein großer Meister hat es
übernommen, uns das Bild derselben und ihrer buntscheckigen,