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Die Sagen und Volksmärchen der Deutschen. Friedrich Gottschalck
Читать онлайн.Название Die Sagen und Volksmärchen der Deutschen
Год выпуска 0
isbn 9783750214132
Автор произведения Friedrich Gottschalck
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
weiteres zu überlassen, sondern verlangte, auch noch
darüber hinaus Etwas zu wissen und von den Sagen
selbst allerhand zu erfahren, so etwa, wie man von
einem Menschen, der uns gefällt, gern noch mancherlei
persönliche Dinge zu wissen begehrt, als da sind:
wie er heiße, woher er komme, was er wolle, wohin er
gehe, und dergleichen mehr; ein solcher würde wahrscheinlich
eine Menge Fragen thun, die ihm denn
doch beantwortet werden müßten.
Ich will eine solche Antwort auf die natürlichsten
von diesen Fragen hier, so gut es gehn will, versuchen.
Vielleicht, daß einige Leser dadurch befriedigt
werden. Andersdenkende aber mögen ihre abweichenden
Ansichten daran prüfen, befestigen, oder auch berichtigen.
Erste Frage:
Was sind Volkssagen?
Im Grunde könnte man darunter alle jene Erzählungen
von verschiedenartigstem Inhalte verstehen, die im
Munde des Volks leben, und sich dort von der Großmutter
zum Enkel getreu fortpflanzen. Indessen möchte
alsdann manches dazu gerechnet werden, was diesen
Namen eigentlich nicht verdient, als z.B. wirkliche
historische Anekdoten, eigentliche Mährchen, die
das Gepräge absichtlicher Erfindung an sich tragen,
und und endlich, falls sie sich unter dem Volke erhalten
sollten, jene erdichteten Erzählungen mit moralischer
Richtung, die man in der neuern Zeit ihm geflissentlich
in Kalendern, Aufklärungsschriften, Volksbüchern
und dergleichen, hat in die Hände spielen
wollen. Echte Volkssagen aber, lassen sich vielleicht
an folgenden Unterscheidungszeichen erkennen:
1) sie ruhen auf einem geschichtlichen oder örtlichen
Grunde; sie beziehen sich entweder auf wirkliche
historische Personen, Familien und Begebenheiten,
oder auf bekannte Gegenden und Orte, und bekommen
eben dadurch einen Schein und Anstrich von
Wahrheit;
2) sie enthalten aber auch einen wunderbaren oder
wenigstens abenteuerlichen Bestandtheil, durch welchen
jener Anschein von Wahrheit immer wieder zunichte
gemacht, und ein zweifelhaftes und eben dadurch
anziehendes Halbdunkel über das Ganze verbreitet
wird; und endlich
3) sie haben keine anderen Quellen, als sich selbst;
sie sind da, sie werden erzählt, sie gefallen, sie reizen,
aber wer sie erdacht, wer sie zuerst erzählt habe, ist
unbekannt.
Und durch dieses alles werden sie nun dasjenige,
wofür sie eigentlich gehalten werden müssen, nämlich
der Kreis und Inbegriff der gesammten Volks-Dichtung:
sie enthalten den Stoff der ganzen National-Poesie,
und was von dieser überhaupt gilt, das findet auf
sie ebenfalls Anwendung.
Wenn wir annehmen, daß wohl jeder Mensch von
Zeit zu Zeit das Stückwerk seines Daseyns lebhaft
empfindet, daß er sich bald durch die Noth des Augenblicks,
bald durch das Dunkel der Zukunft, hier
durch die eigene Kurzsichtigkeit, dort durch fremde
Verkehrtheit, immer aber durch ein räthselhaftes Geschick,
und durch eine unübersehbare und unerforschliche
Weltordnung gedrückt, gehemmt und beschränkt
fühlt; so werden wir es sehr begreiflich finden, daß er
sich auch dann und wann hinaus sehnt aus der Enge
und Verwirrung dieses Lebens in eine Welt voll erkannten
Zusammenhanges, wo alle billigen Wünsche
erfüllt, jede Sehnsucht befriedigt, der Schmerz versöhnt,
und die Thränen getrocknet werden. Da aber in
der weiten Wirklichkeit eine solche Welt nicht vorgefunden
wird, so ist es ebenfalls natürlich, daß der
Mensch sie sich selbst auferbaut in Träumen, Wünschen,
Hoffnungen und Ahndungen. Und so entsteht
ihm dann jene wunderbare Welt der Dichtungen,
wohin der Geist so gern sich flüchtet aus den kleinlichen
und drückenden Verwicklungen des alltäglichen
Lebens, und worin er nicht sowohl wirklichen Ersatz
für den Druck des Lebens, als vielmehr nur ein tröstliches
Bild und eine Bürgschaft finden will von einer
zusammenhängenden, weisen und gerechten Ordnung
der Dinge. Damit aber die solchergestalt erschaffene
Welt nicht bloß als ein Reich phantastischer Gebilde
erscheine, so knüpft er sie gern mit festen Banden an
die Wirklichkeit fest. Bekannte Gegenden und Orte
müssen den Hintergrund bilden, geschichtliche Personen
geben ihre Namen her, oder wahre Begebenheiten
werden auf irgend eine Weise hinein verflochten; und
wie die meisten Menschen gerne ihrer Jugend gedenken,
sie als eine Zeit des Glückes und der Zufriedenheit
sich vorzustellen pflegen, und so aus der Erinnerung
einer besseren Vergangenheit Erheiterung und
Trost in der Gegenwart hernehmen mögen, so werden
auch jene Dichtungen am liebsten in eine frühere, oft
dunkle, aber immer als glücklicher gepriesene Vorzeit
verlegt. Endlich aber werden ungewöhnliche und
abenteuerliche Verhältnisse und wunderbare Wesen
und Gestalten hineingewebt, theils als Reiz und Spiel
der Einbildungskraft, theils als Zeugniß von dem in
der menschlichen Seele tief gegründeten Glauben an
einen unergründlichen Weltzusammenhang, theils
endlich als immerwährende Erinnerung, daß das
Ganze doch nur menschliche Erfindung und Spiel sey.
Und auf diese Weise bildet sich die Poesie überall
und zu allen Zeiten. Ihre Quelle ist die im menschlichen
Gemüthe gegründete unverwüstliche Sehnsucht
nach einem glücklichen, vollkommenen und befriedigenden
Zustande, und sie selbst erscheint zugleich als
Spiegel und als Gegensatz der Wirklichkeit, als bedeutsames
Bild einer wünschenswerthen Weltordnung