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„Wie grausam ist das denn?“

      „Wenn er das Mädchen da hineingehängt hätte, wäre sie mit der Zeit erstickt. Die Fesseln waren also, wenn überhaupt, nur kurz­zeitig in Gebrauch.“

      „Die Vorstellung ist trotzdem quälend! Egal wie lange oder wie kurz jemand so etwas ausgesetzt wird.“

      Thomas nickte bestätigend und sprach einen Mitar­beiter der Spurensicherung an, der eine digitale Spiegelre­flexkamera mit einem aufgesetzten System­blitz in eine Be­weistüte pa­cken wollte.

      „Warten Sie bitte kurz! Darf ich die mal haben?“

      Der Kollege übergab ihm die Kamera. Thomas orientierte sich kurz, schaltete sie nach wenigen Momenten an und drück­te den Knopf für die Bildwiedergabe. Schon das erste Bild war erschreckend. Erschreck­end grausam. Erschre­ckend ästhetisch. Tatsächlich war das rothaarige Mädchen zu sehen, wie es in dem weißen Gewand vor der weißen Wand in den Fesseln hing. Aller­dings war auf dem Boden ein Holzschemel zu erkennen, auf dem sie sich gerade eben noch mit den Zehenspitzen abstützen konnte. Die High Key Aufnahme, auf der sich lediglich die blasse Haut, einige Fal­ten in dem Gewand und das fast feuerrote Haar sowie die grünen Augen des Mäd­chens von dem gleißenden Weiß ab­hoben, strahlte eine Magie aus, der man sich als Betrachter schier nicht entziehen konnte! Der Mann hinter der Kamera hatte gewusst, was er tat! Thomas klickte sich durch eine gan­ze Serie ähnlicher Bilder, dann schaltete er die Kamera aus und übergab sie zurück an den Kollegen der Spu­ren­sicherung.

      „Komm“, sagte er an Sarah gewandt. „Wir schauen zu, dass wir noch ein paar Stunden Schlaf bekommen. Das wird morgen ein langer Sonntag.“

      „Guten Morgen allerseits“, begrüßte Thomas Bierman die An­wesenden Karen Polozek, Nico Berner und Hans Pfef­ferle, als er mit Sarah im Schlepptau den kleinen Kon­ferenz­raum betrat.

      „Da wären wir fünf mal wieder beisammen. Gröber scheint unsere Arbeit zu gefallen“, setzte er hinzu, legte einen recht dünnen Aktenordner auf den Tisch und ließ sich am Kopf­ende nieder. Sarah ließ ebenfalls ein Guten Morgen verlauten und suchte sich den Platz neben ihrer Kollegin, die freudig lä­chelnd bereits den Stuhl vom Tisch weggerückt hatte.

      „Er kommt später vielleicht dazu. Hätten wir Sommer, wäre er wohl auf dem Golfplatz. Aber ich habe keine Idee, was er bei diesen Wetterbedingungen am Sonntagmorgen so macht. Skifahren wird er ja wohl kaum“, kündigte Thomas den even­tuellen Besuch des nicht übermäßig beliebten Ressort­leiters an. „Zum derzei­ti­gen Stand wird er schlimm­stenfalls einen Schwall heiße Luft verbreiten, also können wir sicher einige Zeit konzentriert und ungestört arbeiten.“

      Auf allen Gesichtern zeichnete sich ein süffisantes Lächeln ab, wussten alle um das zwanghafte Geltungsbedürfnis und die bisweilen unkontrollierten Anfälle ihres cholerischen Chefs.

      „Also gut“, eröffnete Thomas das Meeting. „Es ist fünf nach elf, den vorläufigen Bericht haben schon alle gelesen, nehme ich an. Irgendwelche Fragen?“

      Sein Blick machte die Runde.

      „Wie geht es dem Mädchen?“, fragte Karen und in ihrer Stim­­­me schwang Besorgnis mit.

      Sarah, die Thomas genau beobachtete, konnte sehen, dass die Frage ihrer empathischen Kollegin nicht zu den Themen gehörte, die er hier und jetzt besprechen wollte, doch er riss sich zusammen und antwortete sachlich.

      „Sie hat die Nacht augenscheinlich gut überstanden und ohne ein Sedativum verabreicht bekommen zu ha­ben, sehr lange geschlafen. Sarah hat eben mit der behan­delnden Ärztin telefoniert.“

      Ein erleichtertes Nicken, das auch von Hans Pfefferle auf­gegriffen wurde, quittierte diese Information.

      „Hat sie bereits irgendetwas gesagt? Spricht sie überhaupt unsere Sprache?“, hakte Karen nach.

      „Hat sie nicht“, sprang Sarah ein, „und das mit der Sprache ist ein guter Ansatz. Dr. Wiese, die Ärztin, geht zwar davon aus, dass ihre Apathie und das damit verbundene Schwei­gen auf die erlittenen Traumata zurückzuführen sind. Dr. Schwarz jedoch hat bei der Auswertung der gestern ange­fertigten Bilder in Bezug auf ihre Zähne eine Vermutung auf­gestellt. Die meisten Problemstellen sind wohl nie richtig behandelt worden, aber immerhin hat ihr Ge­biss eine Plom­be aufzuweisen, von der Schwarz sicher ist, dass sie nicht in Mitteleuropa angefertigt und platziert wur­de. Da ja auch in Polen, Tschechien und der Slowakei seit etlichen Jahren erst­klassige zahnmedizinische Arbeit geleistet wird, tippt er entweder auf Russ­land oder Weißrussland beziehungs­wie­se auf den Balkan.“

      „Wie gehen wir in Bezug auf das Mädchen weiter vor?“, woll­­te Nico Berner wissen.

      Da Thomas dabei war, die losen Seiten aus dem Akten­ord­ner zu sortieren, antwortete abermals Sarah:

      „Vorausgesetzt, wir sind nicht in der Lage, zeitnah ihre El­tern zu ermitteln, wird sie noch mindestens zwei Tage in der Kli­nik unter der Obhut von Frau Dr. Wiese und dem Ju­gend­amt bleiben. Die zwei werden auch entscheiden, wann und in welcher Intensität wir mit der Kleinen arbeiten dürfen. Wir hoffen, dass wir heute Nachmittag ein erstes Gespräch wagen können. Bis dahin werden die Damen auf jeg­lichen Hinweis, der zu Klärung ihrer Identität und Her­kunft bei­tragen kann, achten. Derweil“, sie nahm Thomas das Blatt, welches er ihr hinhielt, aus der Hand, „ha­ben wir ih­re Be­schreibung und Portraitbilder.“

      Sie legte den Steckbrief auf den Tisch und wartete darauf, dass ihr Partner etwas dazu sagen würde. Da dieser jedoch keine Anstalten machte, die sich aus dem Blatt Papier erge­bende Aufgabe zu delegieren, nahm Sarah es zum Anlass, selbst aktiv zu werden.

      „Wer kümmert sich um die Recherche?“, fragte sie, da sie als jüngstes Mitglied des Teams nicht befugt und auch nicht ge­willt war, eine Anweisung zu erteilen. Selbst wenn sie, so ihre Überzeugung, von Thomas dafür Rücken­deckung be­kommen hätte.

      „Ich mach das“, meldete sich sofort Karen Polocek eifrig zu Wort. „Ich gehe die Vermisstendatenbanken durch und neh­me Kontakt zu den anderen Behörden und den Kollegen im Ausland auf.“

      Sarah schob ihr das Papier über den Tisch, blickte fragend zu Thomas, der ein kaum wahrnehmbares Nicken des Ein­ver­­ständnisses zeigte.

      „Du wirst mit den Kollegen heute nicht viel Glück haben. Ge­nauso wenig verspreche ich mir Erfolg bei der Iden­ti­fi­zierung des Toten. Fingerabdrücke können wir zwar durch­­laufen lassen, aber was die Besitzverhältnisse bezüglich der Waldhütte an­geht et cetera, müssen wir ebenfalls bis morgen warten, genau wie bei den genauen Ergebnissen der Spusi. Zurück­verfolgung der elektronischen Geräte anhand der Serien­nummern macht auch erst Sinn, wenn morgen die Ge­schäfte wieder ge­öffnet haben. Für die Überprüfung der Funkzellen im Be­reich der Hütte brauchen wir einen Be­schluss. Hans, das machst du morgen. Ich denke, was im Mo­ment am pro­duk­tivsten ist, wäre die Durchsicht der DVDs vom Tatort. Viel­leicht können wir da etwas ermitteln, was uns weiter­bringt.“

      Er suchte den Augenkontakt mit jedem Einzelnen, und nach­­dem niemand eine Frage hatte, legte er seine Doku­men­te zurück in den Schnellhefter.

      „Okay, wir können es uns leisten, jeweils zu zweit das Ma­terial zu sichten. Ich habe die Discs im Büro. Nico, holst du die Scheiben für Hans und dich dort ab? Sarah und ich über­nehmen den Rest.“

      Drei Minuten später saßen die beiden an Sarahs Schreib­tisch. Thomas hatte seinen Bürostuhl um den Tisch herum­gerollt und sich so positioniert, dass sie einen guten Blick auf den Compu­ter­mo­nitor hatten. Er öffnete das DVD-Lauf­werk des Desktops und legte die CD ein, die sich in der Hütte im Player befunden hatte. Noch bevor Sarah die Aufnahme startete, kam Nico Berner ins Büro. Ohne ein Wort zu sagen zeigte Thomas auf einen Stapel DVDs, die er auf seinem Schreibtisch für ihn bereitgestellt hatte.

      „Schon was gesehen? Ist es übel?“, fragte er.

      Sarah schüttelte den Kopf, während Thomas letzte Anwei­sungen zu den Beweisstücken gab.

      „Schwerpunkt

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