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die Stofflagen beiseite, bis ein winzig kleiner Kopf zum Vorschein kam.

      Friedlich schlafend lag der Säugling in ihrem Arm. Ihr Blick verharrte eine Weile auf ihm und Trauer stand in ihren sonst so furchtlosen Augen. Federleicht streiften ihre Fingerspitzen die Wangen des kleinen Mädchens. Dann, ganz langsam, senkte sie ihren Kopf über das kleine Ding in ihrem Arm und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.

      Einen Moment später richtete sie sich auf sah sich um. Die Straße war noch immer leer. Niemand hatte sie bemerkt, die Gestalt, die an ebenjenem Herbsttag vor ebenjenem Haus stand. Behutsam beugte sich die Frau herunter und bettete den Säugling auf die oberste Stufe. Ihre Hand verharrte noch einen Herzschlag über dem Kopf des Kindes, als hoffte sie, dass es eine andere Möglichkeit – eine andere Zukunft gab. Dann wandte sie sich in einer fließenden Bewegung ab, zog den Umhang näher um sich und ging. Ihre Schritte hallten durch die leeren Gassen, während ein leichter Nieselregen einsetzte. Als sie irgendwann stehenblieb, weit weg von dem grauen Fachwerkhaus in jener Gasse, perlte ein Tropfen über ihre Wange. Ein Tropfen des Nieselregens, der sich unter die Kapuze des Umhangs verirrt hatte. Oder vielleicht eine Träne.

      Ich erwachte mit klopfenden Herzen und dem Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Noch im Halbschlaf richtete ich mich auf und strich mir die wirren Strähnen aus dem Gesicht. Meine Laken waren zerwühlt und es brauchte keine Hellseherei, um zu wissen, dass ich wieder einen Alptraum gehabt hatte. Die Szenen aus dem Schlosshof verfolgten mich noch immer jede Nacht. In manchen Nächten schreckte ich hoch – bereit zu schreien – während die Bilder noch immer wie ein grausamer Film vor meinem inneren Auge abliefen. In anderen Nächten wachte ich auf, ohne mich an den Traum zu erinnern, doch ein Blick in den Spiegel genügte, um mich zu versichern, dass mein Schlaf alles andere als erholsam gewesen war.

      Ausgelaugt rieb ich mir den letzten Rest des Traumes aus den Augen, bevor ich die Decke zurückschlug und aufstand. Conan regte sich zwischen den Laken und ich fragte mich, ob auch er von jener Nacht träumte. Unwillkürlich schweifte mein Blick hinüber zu Ethans Bett, doch wie gewohnt war das Bettzeug säuberlich gefaltet und nichts außer ein paar trockenen Blättern und Erdklümpchen auf dem Boden deutete darauf hin, dass er jemals in der Hütte gewesen war. Ich wandte mich ab.

      Es war schon fast beängstigend, wie stark der Prinz sich seit unserer Flucht aus dem Schlosshof von uns distanziert hatte. Bereits während des Ritts zu den Hexen hatte er kaum mehr als ein Wort mit mir gewechselt und seit wir in Cathair dearmad angekommen waren, schien er alles zu tun, um Conan und mir aus dem Weg zu gehen. Unsere Begegnung gestern im Wald war das längste Gespräch gewesen, das wir seit zwei Wochen geführt hatten und nicht selten fragte ich mich, was ich eigentlich in ihm zu sehen geglaubt hatte. Der Ethan, den ich am Schloss kennengelernt hatte, hatte nichts mehr mit dem Geist gemein, der nachts ungesehen in unsere Hütte schlüpfte und vor dem Morgengrauen wieder im Schutz des Waldes verschwand.

      Gedankenverloren schnürte ich die Bänder an meinem Mieder, als ein Stück Papier zwischen meinen Fingern hindurchrutschte und zu Boden flatterte. Susans Brief. Noch während ich mich danach bückte, erinnerte ich mich an das Gespräch, das ich zuvor mit Wallace gehabt hatte. Wir hatten über Morrigan gesprochen und ... Verflucht, wie hatte ich das nur vergessen können?

      Innerhalb von Sekunden hatte ich den Rest des Mieders geschnürt und den Brief sicher unter meiner Matratze verstaut. Im Gehen warf ich mir noch einen Umhang über, bevor ich so leise wie möglich aus der Hütte schlich. Das Dorf ruhte unter dem Mantel der Finsternis und die frostigen Vorboten des Winters zierten die Fenster mit feinem Raureif. Kälte drang in meine Knochen und ließ mich zittern. Die Gassen schienen sich endlos zu strecken und mit jedem Schritt wuchsen die Schatten hinter den Hausecken zu furchteinflößenden Gestalten.

      Sie ist eine Hexe, nicht wahr? Das Echo meiner Erkenntnis verfolgte mich und hallte tausendfach, viel zu laut durch meine Gedanken. Morrigan konnte Magie wirken und wenn ich Wallace Glauben schenken konnte, wusste Gladys etwas darüber. Ich musste wissen, was es war.

      Erst, als ich vor der schweren Holztür mit dem filigran geschnitzten Klopfer stand, hielt ich inne. Mit einem Mal wich die Überzeugung, mit der ich zuvor durch die Gassen gestürmt war, von mir und ließ nichts als eine Frage zurück. Wollte ich die Antworten, die mich erwarteten, wirklich hören?

      Je länger ich zögerte, desto mehr Gründe fand ich, umzukehren. Welcher normale Mensch würde schließlich mitten in der Nacht an die Tür der Zirkelvorsteherin klopfen? Nein, die Frage konnte noch einige Stunden warten. Ich musste überdenken, wie ich es anging, was ich sagte, wenn Gladys vorgab, nichts zu wissen.

      Ich war gerade in Begriff, mich umzudrehen, als sich die Tür öffnete und ein schmaler Lichtstreifen über den Dorfplatz huschte. Im Türspalt zeichnete sich eine Silhouette ab.

      "Evangeline?" Erstaunen färbte Gladys' Stimme. "Was um alles in der Welt tust du hier?"

      Völlig perplex sah ich sie an. Die Hexe des Lichts war in die traditionelle weiße Kleidung gehüllt, das schneeweiße Haar in Zöpfen um den Kopf gelegt, als hätte sie meine Gesellschaft bereits erwartet. "Ich wollte ... Ich meine ... Woher wusstest du, dass ich hier bin?"

      "Intuition." Gladys öffnete die Tür weiter, bis der goldene Schein der magischen Laternen mich vollständig umschloss. "Ich wusste allerdings nicht, dass du es bist."

      Sie lächelte und winkte mich nach drinnen. Zögernd folgte ich ihrer Einladung und betrat die Bibliothek des Zirkels. Unter dem einfachen Ziegeldach des Wohnhauses türmten sich Bücherregale und Schriftrollensammlungen ins Unermessliche. Ich erinnerte mich noch gut an meinen ersten Besuch hier. Anders als damals führte Gladys mich nicht durch die Tür in ihren Wohnraum, sondern bedeutete mir stattdessen, auf einer Bank zwischen den Regalen Platz zu nehmen. Der Duft nach altem Pergament schloss mich in eine vertraute Umarmung und meine Muskeln entspannten sich. Gladys reichte mir einen Becher, bevor sie sich zu mir setzte. Erst, als der Tee meine Fingerspitzen wärmte, realisierte ich, wie durchgefroren ich war. Zitternd schloss ich meine Hände um den Becher und nippte daran. Der herbe Geschmack von Kräutern prickelte auf meiner Zunge, während ich mich fragte, in welcher Realität das Wort Intuition das Aufgießen von Tee für nächtliche Besucher einschloss. Als Gladys den Tee aufgesetzt hatte, hatte nicht einmal ich selbst gewusst, dass ich hier enden würde.

      "Ich bin die Hexe des Lichts, Liebes." Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken und als ich den Kopf hob, lächelte sie. Es war zwecklos, sie darauf hinzuweisen, dass sie soeben ihre eigenen Regeln gebrochen hatte. Ich sollte Calideyas Lektionen wirklich einen höheren Stellenwert einräumen.

      "Also, weshalb bist du hier?"

      Ich nippte an meinem Tee, während ich nach den richtigen Worten suchte.

      "Morrigan ist eine Hexe", sagte ich schließlich geradeheraus.

      Gladys' ungerührte Miene bestätigte meine Vermutungen. "Was hat dich auf den Gedanken gebracht?"

      "Feuer." Ich straffte die Schultern und atmete, bevor ich zu einer Erklärung ansetzte. "Es war während des Angriffs aufs Schloss. Zuerst war ich mir nicht sicher. So viele Dinge sind gleichzeitig passiert – überall waren Menschen und die Schreie ... Ich habe die Flammen nur im Augenwinkel wahrgenommen und bevor ich überhaupt realisiert hatte, was geschah, hat Ethan ... mich aufs Pferd gezogen."

      In meiner Kehle bildete sich ein Kloß, als die Schuldgefühle erneut an die Oberfläche drängten. Entschlossen schluckte ich sie herunter. Das war weder die Zeit noch der Ort dafür.

      "Jedenfalls habe ich mich umgedreht", fuhr ich fort. "Es war kaum eine Sekunde, doch je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir. Die Flammen, die ich gesehen habe – es war ein Feuerball. Und Morrigan hat ihn geschleudert."

      Gladys nickte. "Ich habe auf die richtige Gelegenheit gewartet, es anzusprechen."

      "Ihr wusstet es bereits." In meiner Stimme schwang Resignation. Dann hatte nicht nur ich es vermieden, über meine Ängste zu sprechen.

      "Schlimmer", erwiderte Gladys. "Ich fürchte, ich bin verantwortlich für die Macht, die sie heute besitzt."

      "Du bist ..." Sprachlos sah ich sie an. "Wie? Was meinst du damit?"

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