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einem zufriedenen Nicken huschte sie aus der Tür. Sie war noch nie wie ihre Geschwister gewesen. Sie war anders. Doch das musste nicht immer schlecht sein. Flink schlich sie durchs Haus, quer über den Gang und hin zu der Tür, hinter der sich die Treppe zum Dachboden verbarg. Sie wusste genau, wie sie sie öffnen musste und welche Stufen sie auf der alten, halb morschen Holztreppe nicht betreten durfte.

      In ihrem eigenen, vertrauten Rhythmus legte sie den ganzen Weg auf den Dachboden vollkommen unbemerkt zurück. Ihr kleines Reich erstreckte sich mitten in einem Haufen von altem Gerümpel, zwischen Truhen und Schachteln – einem alten Sekretär, der so klapprig wirkte, dass sie sich jedes Mal fragte, wie lange er noch auf seinen dürren Holzbeinchen stehen würde – und allem anderen, das ihre Familie über Generationen hier oben angesammelt hatte. Genau hier, an diesem Ort, in der Erkernische des Stadthauses hatte sie sich ihr eigenes Reich eingerichtet. Einen Ort, den sie ganz für sich allein hatte, verborgen vor den Augen ihrer Geschwister. Sie war sich sicher, keiner von ihnen würde den Dachboden jemals betreten.

      Zufrieden kroch sie hinter die alte Truhe, die quer vor der Nische stand und ihr Reich vor neugierigen Blicken schützte. Dann war sie angekommen.

      Die Nische sah genauso aus wie sie sie verlassen hatte. Der alte Teppich, den sie irgendwann hier oben entdeckt hatte, lag ausgebreitet auf dem Boden und in einer Ecke der Nische, links neben dem runden Fenster, stand noch immer ihr kleines Holzkästchen. Eilig machte sie es sich dort bequem. Der schönste Teil des ganzen Tages war gerade dabei, sich vor ihr zu entfalten. Gespannt presste sie ihre Nase gegen das kalte Fensterglas. Die schlafende Stadt ruhte unter ihr, goldglühend im Licht der aufgehenden Sonne. Ihr Blick glitt über die alten Ziegeldächer, die die Stadt von oben wie einen Flickenteppich unzähliger Farben aussehen ließen, hinaus in die weite Ferne.

      Wenn ich groß bin, dachte sie, Werde ich von hier fortgehen und mit eigenen Augen sehen, was hinter diesen Dächern liegt. Ob es wirklich ein Meer gibt, Wasser soweit das Auge reicht, bis zum Horizont, ohne ein Ende zu sehen oder einen Wald, so groß und dunkel, dass man darin jahrelang herumirren kann, ohne an den Rand zu gelangen.

      Mit offenen Augen verlor sie sich in Tagträumereien, dort, am Fenster der kleinen Nische in dem großen Stadthaus, das sie Zeit ihres Lebens noch nie verlassen hatte.

      Erst der Glockenschlag, der aus einiger Ferne an ihre Ohren drang, holte sie zurück in die Wirklichkeit. Sie zählte. Als sie bei sieben angelangt war, raffte sie ihre Röcke und verließ den Dachboden – natürlich nicht, ohne sich vergewissert zu haben, dass man von außen die Nische nicht entdecken konnte.

      Als sie wenige Minuten später unten in der Küche ankam, war ihre Mutter bereits auf den Beinen und kochte den Haferbrei fürs Frühstück.

      "Guten Morgen, mein Schatz", begrüßte sie sie und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. "Hast du gut geschlafen?"

      Sie nickte und ihre Mutter lächelte. "Willst du mir vielleicht ein bisschen zur Hand gehen, bis die anderen wach sind?"

      Das Mädchen grinste breit und nickte erneut. Die wenigen kostbaren Minuten, die sie jeden Morgen allein mit ihrer Mutter verbrachte, waren das zweite Kleinod, das sie hütete wie einen Schatz. Und sie gedachte nicht, auch nur eine Minute dieser Zeit zu verschwenden.

      Der Morgennebel hing schwer zwischen den Ästen der Bäume, als ich den Wald verließ. Im Dorf begann sich bereits das erste Leben zu regen. Blassgrauer Rauch stieg aus Schornsteinen und die Frauen machten sich auf den Weg zum Fluss, um die Wäsche zu waschen. Normalerweise liebte ich es, mich im dämmrigen Zwielicht nach Auricas Unterricht noch einige Minuten durch die schmalen Gassen des Dorfes treiben zu lassen und das Erwachen der Welt stumm zu beobachten. Doch heute setzte ich meine Schritte beharrlich geradeaus. Ich hatte die letzte Nacht kein Auge zugetan und ich war mir sicher, dass auch Conan nicht geschlafen hatte. Seine Atemzüge waren alles gewesen, worauf ich mich in der Dunkelheit konzentriert hatte. Ich hatte meine Finger verschränkt und unter der Decke fest umklammert, als könnte ich so verhindern, dass sich der Zwischenfall am Fluss wiederholte. Jetzt hoffte ich verzweifelt, dass Sidony die Erklärung fand, die ich letzte Nacht nicht entdecken konnte.

      Als ich mich ihrer Hütte näherte, zögerte ich jedoch. Irgendetwas war anders, ich konnte jedoch nicht ausmachen, woran genau es lag. Die Tür saß fest in den rostigen Angeln und aus dem Schornstein drang Rauch. Sidony war also wach und hatte wahrscheinlich bereits Wasser für den ersten Tee des Tages aufgesetzt. Alles wirkte wie immer, bis auf ...

      Stimmen. Irritiert hielt ich inne und lauschte. Sidonys Ton erkannte ich nach mehr als zwei Wochen fast zweifellos, doch als ich näherkam, machte ich noch eine andere Stimme aus. Ebenfalls weiblich, aber deutlich lauter als die meiner Mentorin. Ich runzelte die Stirn. Wer konnte um diese Zeit bereits etwas von Sidony wollen? Und noch dazu in diesem Tonfall? Würde ich womöglich mitten in einen ausgewachsenen Streit platzen?

      Ich wollte gerade um die Hütte herumgehen, um durch das Seitenfenster zu sehen, als ich die Gestalt bemerkte, die dort in den Schatten lungerte. Ich erkannte den Prinzen im selben Moment, als sein kalter Blick mich durchbohrte.

      "Was um alles in der Welt –"

      "Psst!" Bevor ich reagieren konnte, stand Ethan vor mir, einen Finger auf die Lippen gepresst, um mir zu signalisieren, dass ich still sein sollte. Fragend sah ich ihn an, doch er schüttelte nur den Kopf und zog mich in den Schutz der Stämme, die Sidonys Hütte umstanden. Seine Hand umschloss mein Handgelenk ungewohnt fest und erst, als sein Griff sich löste, realisierte ich, dass ich die Luft angehalten hatte. Geräuschvoll atmete ich auf, bevor ich mich der Frage zuwandte, die wie Säure auf meinen Lippen brannte.

      "Was in Gottes Namen tut Ihr hier?" Mein Tonfall war ein einziger Vorwurf. Ethan hatte kein Recht, meiner Mentorin hinterherzuspionieren, geschweige denn, ihre Gespräche zu belauschen.

      "Ich halte Euch davon ab, einen Fehler zu begehen", versuchte er dennoch, sich zu rechtfertigen.

      "Und private Gespräche mithören ist kein Fehler?" Ich versuchte nicht einmal, meine Entrüstung zu verbergen. Seine Anwesenheit hier bestätigte meine schlimmsten Vermutungen. "Nach allem, was die Hexen für uns getan haben, dankt Ihr es ihnen so? Ich hätte wirklich nicht erwartet, dass Ihr so tief sinken könntet."

      "Was soll das denn bitte heißen?" Er verschränkte die Arme.

      "Ihr wisst genau, wovon ich spreche", zischte ich. "Richtet Eurer Mutter meine Grüße aus."

      "Das werde ich", schoss er zurück. "Gleich nachdem sie mich für Hochverrat hängen lässt. Glaubt Ihr wirklich, ich hätte nichts Besseres zu tun?"

      "Ganz ehrlich?" Ich entgegnete seinem Blick. "Nein."

      "Schön." Er verdrehte die Augen. "Glaubt, was Ihr wollt. Aber lasst Euch gesagt sein, dass die beiden da drin ..." Er nickte in Richtung der Hütte. "... wesentlich schlimmere Geheimnisse vor Euch bewahren als ich."

      Perplex sah zurück zu Sidonys Hütte, bevor ich mich wieder dem Prinzen zuwandte. "Worauf wollt Ihr hinaus? Mit wem spricht Sidony?"

      "Streitet", berichtigte er sofort. "Ich habe nicht viel sehen können, aber die andere Frau ist klein. Zierlich, braunes langes Haar und wahnsinnig aufgebracht."

      "Calideya?" Ethans Beschreibung schien die Hexe der Wahrheit ziemlich genau zu treffen. "Was sollte sie mit Sidony zu besprechen haben?"

      Ethan zuckte bloß die Schultern. "Hört selbst. Euer Name ist zwischen den Anschuldigungen mehr als einmal gefallen."

      Für einen Moment fehlten mir die Worte, während ich zu entscheiden versuchte, worüber ich wütender war. Einen Beweis für Ethans Verrat zu finden, war schlimm, doch der Gedanke, dass die Hexen ein Geheimnis vor mir bewahrten ...

      "Nein." Ich schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. "Ich werde nicht hier stehen und lauschen wie ein Spitzel."

      "Es ist Eure Entscheidung", sagte er dann. "Aber ich an Eurer Stelle würde gut überlegen, ob eine Konfrontation zu diesem Zeitpunkt das Richtige ist. Geheimnisse sind schließlich nicht ohne Grund geheim."

      Ich schauderte. Hatte er Recht? Und wenn ja,

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