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Entmutigt ließ er Schultern und Mundwinkel hängen und vertrieb für einen Moment alle weiteren Gedanken aus seinem Kopf.

      Da spürte er wieder dieses Kribbeln im Rücken, deutlicher als gestern. Léun sträubte sich der Nackenflaum. Hatte der Löwe ihn etwa bis hierher verfolgt, um ihn erneut anzufallen?

      Abrupt drehte er sich um.

      »Du bist es!«, stieß er hervor.

      »Wen hast du denn erwartet?«, fragte Arrec. »Ein Ungeheuer?«

      Léun nickte verdrießlich.

      »Könnte man so sagen.«

      Arrec war zehn Schritt entfernt stehengeblieben. Auch er war barfuß. Unter seiner kurzen Arbeitshose ragten zerschundene Knie und etwas zu dünne Waden hervor; der Oberkörper war nackt, die Arme kräftig vom Schleppen der Reissäcke. Sein schwarzes, bis zum Kinn reichendes Haar glänzte in der Sonne wie das Gefieder eines Raben.

      »Pass bloß auf, dass ich dich nicht fresse«, sagte er und schlenderte auf Léun zu. Wie unter der Taljugend üblich, begrüßte er ihn mit der ausgestreckten Faust.

      Léun stieß mit der seinen dagegen, sie ließen ihre Finger ineinandergreifen.

      »Wolltest du mich erschrecken?«

      »Auch.« Arrec grinste breit. »Schwimmen wir ’ne Runde?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schubste er Léun beiseite und rannte los. Das Wasser spritzte nach allen Seiten, als er sich in die Fluten stürzte.

      »Wart nur, du!« Léun ließ die Decke in den Sand fallen und stürmte ihm lachend und brüllend hinterher. Sie tollten eine Weile herum, tauchten um die Wette und tunkten einander unter, bis sie prustend vor Lachen und Erschöpfung zurück ans Ufer wankten.

      Der Himmel war mittlerweile fast wolkenfrei und von frischer, stahlblauer Farbe. Die Ellbogen rücklings in den Sand gestützt, kam sich Léun träge und zufrieden vor wie eine Raubkatze, die sich nach erfolgreicher Jagd von der Wärme der Sonne den Pelz trocknen ließ.

      »Nicht grad neu, der Lumpen.« Mit hämischer Miene deutete Arrec auf die Decke, die er sich über die untere Körperhälfte gebreitet hatte. »Selbstgemacht? Oder geliehen? Siehst damit ja aus wie ein Mädchen im Rock! Warum läufst du überhaupt so rum?«

      »Das ist ’ne lange Geschichte«, brummte Léun. Ihm kam eine Idee. »Sag mal, du warst gestern nicht zufällig an der Löwenquelle, oder?«

      »Wieso?«

      »Am See hab ich dich jedenfalls nicht gesehen.«

      »Ach so. Nee, leider war gestern ein Abstecher nach Bergau angesagt. Jetzt, wo die erste Ernte läuft, geht’s rund für die Reishändler. Da ist mein Vater mal wieder halb am Durchdrehen.«

      »Hab ich gemerkt«, meinte Léun gähnend.

      Arrec sah ihn fragend an.

      »Er hat dich einen Faulpelz genannt. Du würdest nur am Strand rumlungern und in der Sonne liegen und so.«

      Arrec machte ein abfälliges Geräusch.

      »Ohne mich würd sein ganzer Laden zusammenbrechen.«

      »Das glaub ich gern.«

      »Und wie kommst du auf die Löwenquelle?«, wollte Arrec neugierig wissen. »Was hätt ich denn da gesollt?«

      »Nichts«, versuchte Léun abzuwiegeln. »Nur so halt.« Er legte sich flach auf den Rücken, streckte sich wohlig und starrte in den Himmel. Hoch oben jagten die Mauersegler durch das tiefe Blau, genau wie in seinem Traum.

      »Warst du etwa da?«

      »Schwierig zu erklären. Ich …«

      »Kannst du mir ja auch später sagen«, schlug Arrec vor, ohne dass der entschuldigende Tonfall Léuns Ohren entging. »Mein Vater ist bestimmt sauer, weil ich noch nicht zu Hause bin. Du hast doch auch Hunger, oder?« Er rollte auf die Seite und klopfte ihm mit der flachen Hand auf den Bauch. »Das klingt ziemlich hohl.«

      »Genau wie das!«, rief Léun aufgebracht und pochte seinem Freund mit dem Fingerknöchel an die Schläfe. Arrec wischte seine Hand weg, packte ihn bei den Schultern und versuchte, ihn wieder zu Boden zu drücken. Sie kugelten raufend umher, bis es Léun gelang, Arrec rücklings in den Sand zu stemmen. Zähneknirschend ergab sich sein Freund. Léun grinste siegessicher, ließ von ihm ab und half ihm auf die Beine.

      »Gemeinheit!« Arrec funkelte ihn böse an. »Du hast bloß Glück gehabt. Ich bin stärker als du!« Zum Beweis hob er beide Arme und spannte die Muskeln.

      »Stimmt nicht, du Angeber.« Léun lachte unsicher. Immerhin war sein Freund älter als er. Er stupste ihn neckisch an. »Auf eine Vergeltung, nach dem Essen?«

      Arrecs Blick wurde freundlicher.

      »Worauf du wetten kannst.«

      Léun befürchtete, dass der Reishändler die Einladung nicht unbedingt begrüßen würde – auch wenn sich Arrec unterwegs redlich bemühte, seine Bedenken zu zerstreuen.

      In der Hütte war es dunkel, die Luft fühlte sich staubtrocken an. Erric küsste seinen Sohn zur Begrüßung flüchtig auf das Haupthaar. Von Léun, der ebenfalls eingetreten war, nahm er keinerlei Notiz.

      »Du kommst spät«, sagte Arrecs Vater. »Dein Reis ist kalt. Beeil dich mit dem Essen, wir müssen heute noch runter nach Süderhag, um neue Bestellungen aufzunehmen.«

      »He, Dabbué!« Vorwurfsvoll deutete Arrec auf die einzelne gefüllte Schale auf dem Tisch. »Léun isst mit uns.«

      Verdutzt starrte sein Vater ihn an, um seinen Blick auf Léun zu heften.

      »Mein bester Freund, aus Grünhag«, erklärte ihm Arrec mit einem Schulterzucken. »Weißt du nicht mehr?«

      Mit großer Mühe gelang Léun ein höfliches Lächeln.

      »Ist deinem Großvater etwa die Suppe ausgegangen?«, bemerkte Erric, während er eine weitere Schale mit Reisbrei füllte.

      Arrec ließ die Augen zur Decke rollen, was so komisch aussah, dass der aufsteigende Ärger in Léun sofort wieder verpuffte.

      »Nein, der Reis«, erwiderte er. Wie frech das klang. Er biss sich auf die Zunge.

      Erric schmiss den Reislöffel hin und stellte die Schale klappernd auf den Tisch.

      »Junge«, er musterte Léun streng, »ich mache meine Arbeit schon lange, und ich mache sie gut. Schließlich ist es dieselbe Arbeit, die schon mein Vater und dessen Vater vor ihm hier in Grüntal ausgeübt haben. Dank uns kriegst du in dieser tiefen Provinz überhaupt so was Leckeres wie süßen Reis zu futtern! Wenn dein Großvater es nicht schafft, seine Bestellungen rechtzeitig aufzugeben …«

      »Tut mir leid«, meinte Léun entschuldigend.

      »Setz dich endlich«, forderte Arrec ihn auf. »Und lass es dir schmecken.«

      Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Der lauwarme Reisbrei schmeckte wunderbar. Arrecs Vater nahm nicht Platz, sondern zog es vor, den Tisch lauernd zu umkreisen wie eine hungrige Hyäne.

      »Mehr?«, fragte Arrec, als die Schalen leer waren. Von seinem Vater scharfäugig überwacht, füllte er sie erneut.

      »Danke«, sagte Léun.

      »Bitte.« Erric blieb stehen und stützte sich mit den Armen auf die Tischkante. »Wie rät uns schon Márcuri, Gott der Münzen und Würfel? Der Reiche soll dem Armen geben. Ich allerdings, mit jahrzehntelanger Erfahrung als Reishändler, sage dir: Reichtum verschleudert man nicht, Junge. Auch nicht an die Armen, denn die haben sich ihre Armut meistens selber zuzuschreiben.«

      »Bitte, Dabbué, keinen Vortrag.« Arrec zwinkerte seinem Vater zu.

      Erric ließ sich jedoch nicht beirren.

      »Weißt du eigentlich, wie viel Arbeit in so einem Napf steckt, Junge?«

      Léun kam sich vor wie

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