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nicht. Aber du hast schon recht …« Lóhan pausierte. »Unsere Eltern, also deine Urgroßeltern, stammten beide aus armen Familien. Mein Vater Hélon verdiente als Waldhüter wenig. Ich blieb lange ein Einzelkind. Später wurde er zum örtlichen Verwalter gewählt – seit Einführung der Talwartschaft gibt es das Amt nicht mehr. Trotzdem wurden wir rasch so reich, dass wir uns sogar ein Pony leisten konnten. Meine Eltern blühten buchstäblich aneinander auf. Plötzlich war da ein Brüderchen. Obwohl ich entscheidungsfrei war, sah ich mich zur bloßen Arbeitskraft degradiert – und musste zusehen, wie Héranon Tag für Tag mehr Aufmerksamkeit bekam als ich während meiner gesamten Kindheit …«

      »Hm«, machte Léun ratlos.

      »Ich will euch nicht langweilen.« Sein Großvater rieb sich die Stirn. »Wenig später verließ ich unser Elternhaus. Trotzdem war ich unendlich froh über den Tag, an dem Héranon Grüntal verließ. Da war er noch ein Heranwachsender. Als er wiederkam, erinnerte sich kaum jemand an ihn, schließlich war er Jahrzehnte weggewesen. Wir machten uns nie die Mühe, alles und jeden an unsere Blutsverwandtschaft zu erinnern. Wir sind zu verschieden. Er hat seinen Wald, und ich habe …«

      »Mich«, grinste Léun.

      »Ja.« Der Alte lächelte dankbar. »Meine Familie. Die ihn nie interessiert hat. Láhen, deinem Vater, ist Héranon nie begegnet. Nie hat er mich auch nur gefragt, was zwischen mir und Láryn vorgefallen ist, dass sie und ich uns damals entschließen, wieder getrennte Wege zu gehen. Ich fürchte, mein Bruder ist und bleibt ein Eigenbrötler. Er schert sich nicht darum, was du oder ich …«

      »Das stimmt nicht!«, fiel ihm Léun ins Wort. »Héranon ist ein guter Gastgeber. Und er hat mir angeboten, sein Lehrling zu werden.«

      »Echt?«, staunte Arrec. »Also das würd mir auch gefallen.«

      Lóhan seufzte.

      »Was hast du geantwortet?«

      »Ich, äh … dass ich einverstanden bin«, behauptete Léun – und erntete prompt den bewundernden Blick seines Freundes.

      »Vom Waldhüter zum Löwenbändiger«, schnaubte dagegen sein Großvater. »Da hat sich mein Bruder ja was vorgenommen. Und du willst wirklich sein Nachfolger werden? Ich dachte immer, du hättest eher eine Laufbahn als Tischler im Sinn. Noch beim Frühlingsfest letzten Monat hast du doch Gáret über sein Handwerk ausgefragt.«

      Léun zuckte die Achseln. »Ich hab’s mir eben anders überlegt.«

      »Ich komm dich auch besuchen, da oben in deiner einsamen Hütte«, versprach Arrec. »Und dann starten wir einen regen Tauschhandel.«

      »Wie wär’s mit einer frisch erlegten Sau pro Sack Reis?«, erkundigte sich Léun.

      »Eine Sau pro zwei Säcke Reis. Weil du’s bist! Und«, Arrec verzog den Mund, »weil ich mir später nicht dasselbe nachsagen lassen will wie mein Vater. Nur wie krieg ich die Sau runter ins Tal?«

      Lóhan schmunzelte. »Na, bis zum Ausbau der Handelswege in Grüntal bleibt euch ja noch genug Zeit. Bis dahin …« Mitten in seine Worte hinein klopfte jemand hart und laut an der Haustür.

      »Die Talwartschaft?«, flüsterte Arrec erschrocken.

      »Nur die Ruhe.« Léuns Großvater erhob sich und ging gemessenen Schrittes zur Tür. Da pochte es erneut, heftiger als zuvor. Er öffnete.

      »Schlechte Neuigkeiten«, sagte Héranon heiser, drückte den alten Mann unsanft aus dem Weg und schloss hastig die Tür hinter sich. »Sárim scheint etwas zu ahnen. Er hat dem Talwart von seinem Verdacht erzählt und …«

      »Langsam, ich verstehe nicht, was du sagst«, fiel ihm Lóhan ins Wort. Er folgte dem Waldhüter, der schon Platz genommen hatte, zurück an den Tisch. Héranon ignorierte ihn und begann, eindringlich auf Léun einzureden.

      »War ja klar, dass er Ärger machen würde. Auf dem Weg zu seiner Jagdhütte bin ich an der Talwartstation vorbeigekommen. Durch ein offenstehendes Fenster hab ich seine Stimme gehört und bin einfach mal stehengeblieben.«

      »Du hast gelauscht«, stellte Léuns Großvater fest.

      »Er sagte, dass er als Jäger schon einiges an tückischer Beute erlegt habe. Und dass er aus Erfahrung wisse, wann eine Spur zu Ende ist. Kurzum, er sagte dem Talwart geradeheraus, dass er einen Löwen verfolge und dass nach seiner Überzeugung der Junge – dein Enkel, Bruderherz – der Löwe sei.«

      »Héranon, ich glaube nicht, dass Sárim damit …«

      »Wart’s doch ab. Er hat noch mehr gesagt. Nämlich dass er einiges über Mensch-Tier-Wandler wisse.«

      »Das ist doch gut«, warf Léun ein. »Fragen wir ihn nach dieser Verwandlungsgabe!«

      »Er sagte, um einen Mensch-Tier-Wandler zu bannen, müsse man ihn entweder lebendig begraben, ihm einen Holunderbolzen ins Herz schießen oder, was am sichersten sei, kopfüber aufhängen und der Länge nach entzwei sägen.«

      Léun schauderte.

      »Er hält dich für einen Dämon, Kerl«, flüsterte Héranon. »Gesandt vom Biestgott Rástan persönlich.«

      »Dann fragen wir ihn lieber nicht«, murmelte Léun.

      »Aber …«, stammelte Arrec, drängte sich an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter, »ich finde nicht, dass du ein Dämon bist.«

      »Bin ich auch nicht, du Strohkopf!« Léun schüttelte seine Hand von sich.

      »Was ist mit dem Talwart?«, fragte Lóhan gelassen. »Hat er Sárim diesen Unfug abgenommen?«

      »Zuerst hat er nicht viel gesagt. Als ich aber schon hoffte, er würde den Jäger für blöd halten, rückte der mit dem Zwischenfall in Mittelhag raus.«

      »Von dem du ihm ja kurz zuvor berichtet hattest.«

      »Falsch«, knurrte Héranon. »Ich hab ihm nicht mehr erzählt, als die Leute vor der Reishändlerhütte sowieso mitbekommen haben.«

      »Na großartig.« Léuns Großvater musterte den Waldhüter mit abschätzigem Blick. »Lieber kleiner Bruder, du warst schon immer ein Tölpel im Umgang mit Worten. Dass du aber mit deinen weit über vierzig Lenzen noch nicht gelernt hast, wann man schlicht und einfach mal das Maul halten sollte«, Lóhan atmete tief durch, als kostete ihn das derbe Wort viel Kraft, »das ist schon ein starkes Stück. Zumal du damit meinen Enkel und mich in Lebensgefahr bringst!«

      »Weiter so«, grinste Héranon. »Klingt gar nicht übel, weißt du, wenn du zur Abwechslung mal redest wie ein normaler Mensch.«

      »Sárim hat uns abgepasst, als wir hierher zurückkamen, Großvater«, versuchte Léun den Waldhüter in Schutz zu nehmen.

      »Lass nur, Kerl. Endlich hat mein großer Bruder die Gelegenheit, mir die Meinung zu sagen.«

      »Das habe ich hiermit getan«, ruderte Lóhan zurück. »Also? Wie ging es weiter?«

      »Als der Talwart das mit Mittelhag erfuhr, wurde er hellhörig. Er will sich morgen von seinen Kollegen dort Bericht erstatten lassen. Und bei euch vorbeischauen, falls sie ihm bestätigen sollten, dass der Junge und der Löwe zur selben Zeit in der Hütte waren.«

      Léun presste die Knie gegen die Tischkante, damit sie nicht allzu sehr zitterten.

      »Gut«, nickte sein Großvater, »bis dahin wird mir schon eine vernünftige Erklärung einfallen. Wenn er an meine Tür klopft, werde ich den Talwart gerne empfangen.«

      »Nein, du Narr, das wirst du nicht!«, rief Héranon. »Überleg mal scharf: Der Mittelhager Talwart wird ebenfalls mit dem Reishändler sprechen. Nichts gegen deinen Vater, Schwarzhaar …«

      Arrec lächelte schief und schüttelte den Kopf.

      »… aber der wird ihnen natürlich die ganze alberne Soße von dem Dämonenjungen, der sich vor seinen Augen in einen hässlichen, bösartigen Löwen verwandelt hat, brühwarm zwischen die Arschbacken schmieren und …«

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