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war er eine Armlänge von ihm entfernt.

      Héranon roch den gefährlich heißen Atem des Raubtiers, sah jedes einzelne Schnurrhaar, dick wie ein Zahnstocher, und die wie flüssiges Gold schimmernde Iris seiner Augen, die zwischen schwarzgeränderten Lidern hervorleuchtete. Vorsichtig streckte er den Arm aus, näherte langsam die nach oben gekehrte Handfläche dem Löwengesicht …

      … bis seine Finger Fell spürten. Es war borstig, von störrischem Wuchs. Der Kopf des Löwen strahlte immense lebendige Wärme aus – Héranons Handfläche begann zu prickeln. Káor schloss die Augen, entblößte die enormen Reißzähne und presste mit forderndem Brummen die Wange gegen seine Hand.

      Nicht mit seiner gesamten Körperkraft hätte der Waldhüter diesem unsanften Druck etwas entgegensetzen können. Nicht mit seinem gesamten Willen hätte er sich zu dem Versuch verleiten lassen. Das zärtliche Vertrauen, das Káor ihm entgegenbrachte, rührte Héranon. Káor war ein besonderer Löwe. Jede gewöhnliche Raubkatze hätte ihn längst in Stücke gerissen.

      »Die da draußen warten auf uns«, gab er zu bedenken.

      Káor schnaubte und stupste ihn mit der Schnauze gegen den Unterarm.

      »Káor ý sunder íro Léun«, sagte Héranon nicht ohne gebührende Ehrfurcht und zog die Hand zurück.

      Léun fühlte, wie er unendlich müde wurde. Der Waldhüter und die Hütte um ihn herum verschwammen. Er fiel. Furcht wirbelte durch seinen Geist, jedoch nicht so grell wie kurz zuvor. Sie fühlte sich eher dumpf an, wie ein abklingender Schmerz. Auf einmal schien er wie nach einem Sturz aus großer Höhe hart auf hölzernen Bohlen zu landen.

      Mühsam richtete er sich auf, versuchte, seine flatternden Lider zu öffnen und klar zu sehen. Seine Knochen fühlten sich an, als hätte sie jemand mit einem Dreschflegel bearbeitet. Um ihn herum lagen die Trümmer von Möbeln und Geschirr verstreut. Inmitten all dem Chaos stand Héranon und blickte ihn ernst, aber nicht unfreundlich an.

      »Willkommen zurück, Kerl«, sagte er. »Steh auf.«

      »W…was war das?«, stöhnte Léun.

      »Später. Erst einmal musst du hier weg. Steh auf!«

      Mühsam stemmte sich Léun auf alle Viere hoch. Unwillkürlich suchte er mit einer Hand die Decke um seine Hüften und fand sie nicht. Auf einmal überkam ihn ein solcher Schwindel, dass er glaubte, den ganzen Reis wieder ausspucken zu müssen. Schwarzer Nebel waberte vor seinen Augen, und in seinen Ohren gellten Jahrmarktpfeifen. Der Arm, auf den er sich stützte, knickte ein. Wie ein nasser Sandsack fiel er auf die Seite.

      »Bei Ygéno, Gott allen gesunden Lebens, reiß dich zusammen! Die Leute denken sonst bloß … aber ja, sollen sie doch. Warte, ich such dir was zum Anziehen.« Héranon verschwand in einem Nebenraum.

      Léun hörte ein Klappern, mit dumpfem Rumoren wühlte der Waldhüter irgendwo herum. Endlich wurde die Sicht wieder klar, und die Kraft kehrte in seine Glieder zurück. Er richtete sich auf. Noch bevor ihm vollends bewusst geworden war, dass er schon wieder nichts am Leib trug, kam aus dem Durchgang zum Nebenzimmer etwas Großes, Dunkles geflogen. Es traf ihn im Gesicht. Er unterdrückte einen Schreckensschrei – doch es war nur ein verschwitztes Kleidungsstück.

      »Überziehen, los«, rief ihm Héranon leise zu. »Und beeil dich gefälligst!«

      Das Hemd war ein bisschen eng und hätte eine Wäsche vertragen, aber es war besser als nichts.

      »Hier kommt der Rest!« Héranon warf eine knielange Wollhose hinterher. »Fertig? Ich trag dich raus. Du bist schwer krank, also gib keinen Mucks, sobald wir durch die Tür sind, klar?«

      Bevor Léun protestieren konnte, packte Héranon ihn mit einem Arm unter den Achseln und mit dem anderen bei den Knien. Grunzend vor Anstrengung hob er ihn in die Höhe, lüpfte ihn ein-, zweimal ruckartig für den sichersten Griff und ging dann mit schweren Schritten zur Tür.

      »Augen zu, Kerl«, befahl der Waldhüter halblaut.

      Léun gehorchte. Héranon gab der Tür einen gezielten Fußtritt. Der Riegel brach. Licht strömte auf sie ein.

      Vor Errics Hütte hatte sich ein gutes Dutzend tuschelnder Dorfleute eingefunden. Im Vorgarten stand Arrec, keuchend und mit wirr ins Gesicht hängenden Haaren. Zu seinen Füßen kniete sein Vater. Stirn und Wangen des Reishändlers waren aschfahl, sein Oberkörper bewegte sich leicht vor und zurück.

      »Hier gibt’s nichts mehr zu sehen, Leute!«, rief Héranon, während er ins Freie trat.

      Léun gab sich Mühe, möglichst schlaff zu wirken. Schon hörte er, wie ein paar Dorfbewohner ihre unsicheren Stimmen erhoben.

      »Was ist da drin vor sich gegangen?«

      »Wo ist das Ungeheuer?«

      »Was ist mit dem Jungen?«

      »Er ringt mit dem Tode«, gab Héranon zurück. »Er hatte einen Anfall. Sein Großvater kennt sich mit sowas aus. Vielleicht kann er ihn retten.«

      »Brauchst du Hilfe, Waldhüter?«, wollte eine Frau wissen.

      Léun hörte rasche Schritte und fühlte im nächsten Moment eine feuchtwarme Hand auf seiner Stirn. »Bis Grünhag schafft er’s nie!«

      Unter den geschlossenen Lidern verdrehte er die Augen und stöhnte theatralisch.

      »Wenn ihr mich aufhaltet, bestimmt nicht«, rief Héranon. »Du da, du bist mit ihm befreundet, nicht?«

      Léun hörte Arrec ein bestätigendes »M-hm« von sich geben.

      »Komm mit! Ihr anderen: Räumt da drin mal ein bisschen auf. Und bringt Erric ein Bier oder zwei, und zwar hurtig!«

      Der Waldhüter lief los.

      Arrec folgte ihm.

      Héranon war stehengeblieben. Léun blinzelte. Sie hatten die alten Obstwiesen erreicht.

      »So.« Der Waldhüter stellte ihn auf die noch wackeligen Füße, bevor er mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken straffte. »Dachte schon, du schläfst selig wie ein Säugling, Kerl. Wenn du auch um einiges unhandlicher bist. Gute Vorstellung übrigens!«

      »Heißt das, du bist gar nicht krank?« Arrec runzelte die Stirn.

      »Seh ich so aus?« Léun schüttelte sich, um die taub gewordenen Schultern und Arme zu lockern.

      »Ihm geht’s blendend«, bemerkte Héranon. »Die ersten paar Male zehren an deiner Substanz, aber das gibt sich im Lauf der Zeit.«

      »Was meinst du damit, Waldhüter?«, wollte Arrec mit argwöhnisch gerecktem Hals wissen.

      »Womit? Dass es ihm blendend geht?« Héranon kratzte sich am Kinn. »Was begreifst du daran nicht?«

      Arrec schien mit sich zu kämpfen. Er ballte die Fäuste und wirbelte herum.

      »Ich muss nach Hause.«

      »Warte!«, rief Léun. »Tut mir leid, dass ich, äh … wegen des Durcheinanders in eurer Hütte. Komm doch mit zurück an den See, ja? Ich wollte dir sowieso erklären, was …«

      »Hiergeblieben, Kerl.« Héranon trat ihm in den Weg. »Erklären ist gut. Dein Großvater und ich sind schon sehr gespannt.« Über die Schulter wandte er sich an Arrec: »Du da! Stehst du einem Freund im Notfall bei – oder bist du ein Feigling, der sich lieber zu Hause verkriecht?«

      Das wirkte. Arrec machte auf dem Absatz kehrt, würdigte den Waldhüter keines Blickes und stapfte voran.

      »Komm, Léun«, sagte er und fügte mit schadenfrohem Grinsen hinzu: »Oder glaubst du, ich lass mir entgehen, wie du gerupft wirst wie ein Huhn? Außerdem, das Hemd da gehört mir!«

      »Woher wusstest du eigentlich, wo ich bin, Waldhüter?«, erkundigte sich Léun, als sie in Richtung Grünhag unterwegs waren. Kaum hatte er die Frage

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