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er sich von Héranon verarzten lassen musste.

      »Wer Hilfe braucht, kriegt sie auch«, sagte dieser. »Denk dran, wenn du selber mal jemanden in Not siehst.« Er ließ den Rest des Suds noch einmal aufkochen, gab weitere Kräuter hinzu und schenkte Léun endlich einen Becher voll ein.

      »Trink das leer«, befahl er, »und zwar bis auf den letzten Tropfen. Ich schau in der Zwischenzeit nach, ob hier nicht noch irgendwo was Passendes für dich zum Anziehen rumliegt.«

      Léun pustete in den Becher und tat, wie ihm geheißen. Der Sud war genießbar, zumindest wenn er sich vorstellte, hinterher wieder zum Honigwein übergehen zu dürfen. Während er sich den Trunk in kleinen Schlucken genehmigte, beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie der Waldhüter die Truhe neben dem Lager öffnete. Er kramte darin herum und zog schließlich ein paar abgewetzte Fetzen heraus. Rasch schloss er den Deckel und warf seinem Gast über die Schulter einen argwöhnischen Blick zu.

      Welche Geheimnisse mochte Héranon wohl haben? In den Dörfern gingen Gerüchte um, wonach er weit in der Welt herumgekommen sei. Tatsächlich sollte der Waldhüter zwar aus Grüntal stammen, hieß es, aber bereits als Jugendlicher sei er weggegangen und habe die meiste Zeit seines Lebens in der Fremde verbracht. Erst vor zehn Jahren, so sagte man, sei er zurückgekehrt, um sich dauerhaft in seiner alten Heimat niederzulassen.

      Léun konnte sich nicht daran erinnern. Für ihn gehörte der Waldhüter seit jeher zu Grüntal, genau wie Granti und ihre Hunde. Nur dass er um einiges umgänglicher war.

      Das Hemd war zu weit und die Hose zu eng. Trotzdem war Léun froh über die geliehenen Kleidungsstücke. So ließ sich der Sturm schon viel eher aushalten – mit einem Dach über dem Kopf, einem vollen Becher Honigwein auf dem Tisch und dem würzigen Rauch in der Nase, den Héranons Pfeife verströmte. Heftiger Regen trommelte auf das Dach der Hütte, und in der Dunkelheit hinter den winzigen Fenstern konnte man immer wieder Blitze zucken sehen. Jetzt kam es Léun absurd vor, dass er tatsächlich die Idee gehabt hatte, sich bei den Wildschweinen im Unterholz zu verkriechen.

      »Wo waren wir stehengeblieben?« Der Waldhüter sog genüsslich an seiner Pfeife. »Ach ja, du wolltest mir gerade erzählen, wo du deine Kleider gelassen hast.«

      »Irgendjemand hat sie mir geklaut«, erwiderte Léun. »Denke ich jedenfalls. Ich war baden, und als ich zurückkam, waren sie nicht mehr da.«

      Héranon lehnte sich zurück, verschränkte die Arme auf der Brust und schloss die Augen halb.

      »Glückwunsch«, knurrte er, wobei er so fest auf den Stiel seiner Pfeife biss, dass seine Kiefermuskeln hervortraten. »Du hast wirklich Glück!«

      »Womit?«, fragte Léun verwirrt.

      »Na, mit den Mädchen natürlich.«

      Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und klappte ihn verwundert wieder zu. Ciára sollte ihm bis zur Löwenquelle gefolgt sein? Das konnte er sich nicht vorstellen.

      »Zu meiner Zeit war das alles noch ganz anders«, behauptete Héranon. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und hustete so lautstark, dass die ganze Hütte zu wackeln schien. »Früher hatten Grüntals Väter ein Auge auf ihre Töchter. Zwei Augen! Auch nur einmal mit unserer Auserwählten allein zu sein – unmöglich. Wenigstens das scheint nicht dein Problem zu sein, oder?«

      »Doch, Waldhüter«, sagte Léun ärgerlich. »Aber darum geht es nicht.«

      »Sondern?« Héranon musterte ihn scharf. »Wer blond ist wie du – und ein auch nur annähernd hübscher Bengel –, dem rennen die Mädels doch in Scharen hinterher! Ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich rede. Fast immer waren meine Kleider weg, sobald ich wieder aus dem See stieg. Hinter den Büschen haben sich die frechen Gören prustend die Augen nach mir ausgeguckt.« Er lachte grimmig.

      »Aber da waren keine Mädchen«, widersprach Léun.

      »Dann vielleicht ein paar Jungen?« Héranon zuckte die Achseln. »Oder ein einzelner Junge. Der sich zufällig in dich verguckt hat anstatt in ein Mädel.«

      »Ich war ganz allein«, beharrte Léun.

      »Am Mittleren See ist man nie allein«, gab der Waldhüter zu bedenken.

      Léun kniff die Lippen zusammen und schaute in seinen Weinbecher.

      »Ach, ich verstehe. Du warst gar nicht am See.«

      »Grantis Hunde haben mich bis nach Waldhag gejagt«, gab er zerknirscht zu. »Danach bin ich rauf zur Löwenquelle.«

      Ein Donnerschlag ließ ihn zusammenzucken. Selbst Héranon zeigte für einen Moment Respekt vor dem draußen tobenden Sturm. Er hustete ungesund, legte seine Pfeife auf die bereitstehende tönerne Schale und lehnte sich, Atem holend, zurück.

      »Wenn ich eins in meinen Jahren als Waldhüter gelernt habe«, sagte er in düsterem Tonfall, »dann, dass in den Wäldern dieser Welt andere Gesetze herrschen, als uns Menschen lieb ist. Zwischen Wipfeln und Baumstämmen leben Kreaturen, die älter sind, als du dir vorstellen kannst. Sie bestimmen, was in ihrem Reich geschieht. Sie dulden uns, keine Frage. Doch nicht alle von ihnen sind uns wohlgesinnt.«

      Schluckend verschanzte sich Léun hinter seinem Becher. Der Alte war offenbar nicht ganz bei Trost!

      »Die Löwenquelle zählt zu den geheimnisvollsten Orten im ganzen Grünwald. In ihrem Umkreis geschehen seltsame, unerklärliche Dinge. Selbst die Zeit vergeht dort anders. Die Quelle ist …« Héranon brach ab, als er Léuns unverhohlenes Grinsen sah. »Weißt du, woher sie ihren Namen hat?«

      »Ja, Waldhüter, aber …«

      »Eben nicht«, fiel ihm dieser ins Wort. Er griff nach seiner ausgegangenen Pfeife. »Du weißt es eben nicht. Es hat nicht nur mit diesem Felsen zu tun. Die Löwenquelle ist ein magischer Ort!«

      »Aber es gehen doch ständig Leute hin«, rief Léun mit einem unguten Gefühl. »Noch nie ist jemand verzaubert von dort zurückgekommen.«

      »Stimmt, Kerl.« Tatkräftig stopfte Héranon seine Pfeife neu. »Trotzdem hast du dort etwas erlebt, das dich an deinem Verstand zweifeln lässt, nicht? Weshalb du im edelsten Gewand, das der Gott der Männer dir schenkte, bei Nacht durch den Wald geirrt bist!«

      Léun schwieg betreten.

      »Erzähl schon.« Der Waldhüter goss ihm Honigwein nach.

      Léun rang mit sich. Sollte er ihm wirklich auf die Nase binden, dass er einen leibhaftigen Löwen auf dem Felsen gesehen hatte? Der noch dazu wie ein Mensch mit ihm gesprochen hatte, bevor er ihn anfiel und ihm mit seinen Krallen die Haut zerfetzte, wovon jetzt aber dummerweise nichts mehr zu sehen war? Ganz zu schweigen davon, dass er im Rachen des Löwen sämtliche Sterne des Alls erblickt hatte?

      Nein, da kam ihm die Baumwurzel als Ursache der ganzen Probleme doch wesentlich überzeugender vor.

      Wann genau bin ich nochmal gestürzt und ohnmächtig geworden?

      Wenn er sich recht erinnerte, war der Löwe schon vorher auf dem Felsen erschienen. Das Vieh hatte doch erst dafür gesorgt, dass er stürzte! Davon abgesehen hatte es bestimmt nicht seine Kleider gefressen.

      Oder?

      Er leerte seinen Becher so schwungvoll, dass der Honigwein überschwappte und ihm in den Hemdkragen lief.

      »Ist anscheinend eine komplizierte Geschichte«, stellte Héranon grinsend fest. Er hatte seine Pfeife wieder in Gang gebracht und blies einen vollkommen runden Rauchring zur Decke.

      »Vergiss es«, knurrte Léun.

      Der Waldhüter musterte ihn wieder mit halbgeschlossenen Augen.

      »Wie alt bist du eigentlich, Kerl?«

      »Sechzehn«, log er ohne zu zögern. So alt war Stán. Léun fand, er sah mindestens genauso erwachsen aus. Seine Stimme klang sogar ein bisschen tiefer als die von Stán. Das hatte ihm auch schon Arrec bestätigt.

      »Das Alter stimmt schon mal nicht«, murmelte Héranon, ohne ihn anzusehen.

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