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beschloss Léun, sich zur Quelle zurückzuziehen. Falls ihm der Hunger keine Ruhe ließ, konnte er ja später immer noch in Waldhag jemanden um einen Becher Milch und eine Waffel bitten.

      Er umging Waldhag in südlicher Richtung, um nicht entfernten Bekannten neugierige Fragen beantworten zu müssen. Gut zwei Steinwürfe von der letzten Hütte entfernt schlug er sich in die Büsche, die den Grünwald säumten. Im Schutze des Laubs bewegte er sich auf das Dorf zu. Er hörte Hühner gackern und das gedämpfte Lachen einer Familie, die sich vermutlich zum Essen zusammenfand. Der köstliche Duft von Gebratenem stieg ihm in die Nase. Sein Magen krampfte sich zusammen. Endlich stieß er auf die Mündung des Waldpfads. Er schnaubte entschlossen, kehrte Grüntal den Rücken und machte sich an den Aufstieg.

      Als Léun auf den Rundweg stieß, blieb er stehen um zu verschnaufen. Von dem Gewaltmarsch, den er hingelegt hatte, rann ihm der Schweiß von der Stirn. Er wandte sich um und schaute zurück. Weit unter ihm, von den Baumwipfeln teilweise verdeckt, lag Grüntal. Von hier oben aus gesehen hatte das Wasser des Mittleren Sees eine grünbraune, brackige Farbe. Die Luft war diesig geworden. Der Himmel war nicht mehr blau wie am Morgen, sondern von milchigem Weiß, das sich an manchen Stellen zu einem regenverheißenden Grau verdichtet hatte. Noch dazu türmten sich am östlichen Horizont Gewitterwolken auf, die die südlich stehende Sonne fast erreicht hatten. Unwetter zogen laut Léuns Großvater meistens von Osten heran.

      Hoffentlich schaffe ich es vor dem Sturm noch nach Hause, dachte er säuerlich.

      Der obere Teil des Pfades zur Quelle wurde selten benutzt. Zweige von Buchen und Kastanien hingen bis auf den Boden, und an einer Stelle versperrte eine umgestürzte Tanne den Weg. Léun musste den Baumriesen umgehen und holte sich weitere Schrammen, als er sich mühsam zwischen Ästen und Zweigen hindurchschob.

      Kurz danach wurde das Gelände steiler und noch unwegsamer. Beim letzten Regen musste sich der Pfad in einen reißenden Bach verwandelt haben; der Erdboden war zu großen Teilen mitgerissen worden, so dass die darunterliegenden Felsen freilagen. Die kleinsten davon waren faustgroß und kullerten in die Tiefe, wenn Léun darauf trat. Andere Brocken saßen zwar noch fest im Boden, hatten dafür aber tückisch scharfe Kanten. Er musste doppelt vorsichtig sein. An vielen Stellen blieb ihm nichts anderes übrig als zu klettern, weil der Pfad plötzlich von einem hüfthohen Felsabsatz durchbrochen war. Oder er wand sich in einer engen Kehre um einen riesigen Findling herum, den fünf Männer mit ausgestreckten Armen gemeinsam nicht hätten umfassen können.

      Léun begegnete niemandem. Froh, für eine Weile dem emsigen Treiben im Tal entflohen zu sein, gab er sich mit allen Sinnen der Stille des Waldes hin. Sie klang anders als die Stille einer Nacht, die sich auch über Grüntal herabsenkte; hier oben sangen kaum Vögel, und keine einzige Grille oder Zikade war zu hören. Nicht einmal die Bäume rauschten. Mittlerweile wehte absolut kein Wind mehr. Nur ab und zu ratschte ein Häher, oder ein paar Waldtauben flogen mit klatschenden Flügeln auf.

      Einmal sah Léun ein Reh, das keine zwanzig Schritt vom Pfad entfernt dastand wie ein Bildnis aus Stein. Er blieb ebenfalls stehen, und das Tier und er starrten einander eine Weile reglos an. Wie auf Kommando verfiel es in gemächlichen Galopp, um nahezu lautlos in nördlicher Richtung den Hang hinab zu verschwinden.

      Die Wegstrecke zur Löwenquelle war länger, als Léun sie in Erinnerung hatte. Aber damals waren Stán und Arrec dabei gewesen. Sie hatten die ganze Zeit über herumgealbert. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Umso erleichterter war er, als das Gelände nach einem schier endlosen, beschwerlichen Aufstieg flacher wurde.

      Léun kannte die Stelle – ein erster bewaldeter Hügelkamm, mit dem die Rockenberge begannen. Jetzt musste er noch ein letztes Stück nach Norden marschieren, dann war er am Ziel.

      Das Wasser der Löwenquelle entsprang einem felsigen Buckel, der aus dem Hügelkamm herausragte. Er hatte unverkennbare Ähnlichkeit mit dem erhobenen Kopf eines Löwen. An der Seite lief das Wasser herunter und bildete am Boden den kleinen Teich. Dahinter zog sich ein schmaler Bachlauf durch den Wald bis nach Grüntal hinunter.

      Beim letzten Besuch hatte sich Stán einen Spaß daraus gemacht, den Felsen zu erklettern, um von dort aus ins Wasser zu springen. Er hatte es doch nicht gewagt. Sie hatten ihn als Feigling verspottet, obwohl Léun sich insgeheim vorstellte, dass die Höhe von oben bedrohlicher wirkte als von hier unten. Außerdem hätte auch er sich nicht unbedingt den Hals brechen wollen.

      Der kleine Wasserfall schien ihm diesmal höchstens halb so mächtig wie damals zu sein. Das Wasser des Teichs wirkte schwarz und abgestanden; erst aus der Nähe sah er, dass ihn eine ungünstige Spiegelung des Lichts getäuscht hatte. Weit und breit war niemand zu sehen.

      Kurzerhand schleuderte er sämtliche Kleider von sich und watete langsam in den Teich hinein, um sich an das eiskalte Wasser zu gewöhnen. Es reichte ihm immerhin bis zum Bauchnabel. Er hielt beide Hände in den Wasserfall und löschte seinen Durst, tat einen weiteren Schritt und stellte sich direkt darunter. Als das kühle Nass über seine Schultern rann, stockte ihm für einen Moment der Atem.

      Das Wasser nahm seinen Schweiß und den klebrigen Geifer der Hunde mit sich fort. Es überspülte seine brennenden Schrammen, bis die Kühle den Schmerz völlig betäubte. Léun hatte seinen inneren Gleichmut wiedergewonnen. Noch einmal schöpfte er Wasser und schüttete es sich ins Gesicht. Er lehnte sich mit beiden Händen gegen den Felsen und legte das Kinn auf die Brust, so dass ihm das Wasser auf den Hinterkopf prasselte. Er schloss die Augen, genoss die klare, reine Kälte des Stroms und stand eine Weile da, ohne zu denken.

      Mit einem Mal überkam ihn das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ruckartig hob er den Kopf, wandte sich um und wischte sich mit einer Hand das Wasser aus dem Gesicht. Niemand war zu sehen, nicht einmal ein Tier. Der Pfad und der ganze Hügelkamm, soweit er ihn überblicken konnte, lagen still und verlassen da. Trotzdem – höchste Zeit, dass er sich wieder aufmachte. Mit langen Schritten ging er zurück zum Ufer, stieg aus dem Wasser und schüttelte sich die Nässe aus den Haaren.

      Wo war seine Hose? Er hatte sie über eine Baumwurzel geworfen, keine drei Schritt vom Teichufer entfernt. Auch sein Hemd und seine ledernen Sommerschuhe waren verschwunden. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er ging um den Stamm des Baumes herum, suchte den Waldboden mit hastigen Blicken nach seinen Kleidern ab. Nichts. Er blieb stehen, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

      »Arrec?«, rief er auf gut Glück. »Stán?«

      Niemand antwortete.

      »Verflixt nochmal«, murmelte Léun ärgerlich. Solche Späße konnte er überhaupt nicht leiden, zumal sich die Sonne mittlerweile ganz hinter die Wolken verzogen hatte. Der Himmel war grau, stellenweise schwärzlich. Fahles Zwielicht und stickige Hitze herrschten unter dem Blätterdach des Grünwalds. Es war vollkommen still. Nur in seinem Rücken plätscherte der Wasserfall. Er musste sich endlich auf den Heimweg machen, wollte er noch rechtzeitig vor dem Gewitter zu Hause sein!

      Da kam ihm eine Idee. Seine Freunde, wenn sie es denn waren, hatten all seine Sachen geklaut und sich unbemerkt hinter den Löwenfelsen verzogen. Natürlich! Jetzt lachten sie sich ins Fäustchen und warteten nur darauf, dass er ihnen seine Kleider, nackt, wie er war, wieder abzujagen versuchte. Blöde Kindsköpfe. Den Spaß würde er ihnen gründlich verderben.

      Plötzlich kribbelte es ihn unangenehm zwischen den Schulterblättern. Da musste jemand direkt hinter ihm stehen. Er wandte den Kopf.

      Niemand. Léun war das einzige menschliche Wesen in diesem Wald.

      Doch sein Gefühl sprach dagegen. Langsam drehte er sich um die eigene Achse. Die Wasseroberfläche des Quellteichs sah wieder so schwarz und ölig aus wie vorhin, als er angekommen war. Vor Grauen stellten sich ihm am ganzen Körper die Haare auf.

      Er war nicht allein, soviel stand fest. Doch wo waren die anderen? Zitternd ließ er den Blick den Wasserfall entlang bis zur Spitze des Felsens hinauf schweifen.

      Léun erstarrte.

      Dort oben war jemand. Oder vielmehr, etwas.

      Das muss ein Traum sein, schoss es ihm durch den Kopf. Ganz ruhig, gleich wirst du aufwachen.

      Hinterher

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