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dachte er und betastete etwas skeptisch den Flaum an seinem Kinn. Aber selbst wenn der Bart noch auf sich warten ließ – nächstes Frühjahr würde er sein fünfzehntes Jahr vollenden.

      Dann bin ich endlich entscheidungsfrei, und niemand kann mir mehr was vorschreiben, nicht mal Lóhan.

      Nicht dass er seinen Großvater nicht mochte und bewunderte. Der alte Mann hatte ihn als Kleinkind bei sich aufgenommen und mit Liebe und Fürsorge aufgezogen. Er ertrug seine dümmsten Streiche und manch ungerechtfertigten Vorwurf und gab ihm nicht zuletzt immer das Gefühl, dass er ihm blind vertrauen und alles erzählen konnte, was sein Herz bewegte.

      Trotz alledem kam sich Léun in letzter Zeit durch seinen Großvater zunehmend eingeschränkt vor. Es war schwer zu beschreiben, aber es fühlte sich an, als schnürte ihm jemand die Luft ab oder als wäre er nur zur Hälfte er selbst. Der Teil, der ihm fehlte, den hoffte Léun anderswo zu finden: im See, auf einem Baum, im Kreis seiner Freunde, am Hang eines Hügels in der Sonne dösend – oder auch wann immer er Ciára, dem Mädchen von schräg gegenüber, in die Augen schaute.

      Nachdem er sich angezogen hatte, verließ Léun seine kleine Kammer und betrat die Wohnstube. Sein Großvater war dabei, mit hochgekrempelten Ärmeln und schwungvollem Einsatz Brotteig zu kneten. Unter wild wuchernden Augenbrauen hervor sandte er ihm einen Blick, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

      »Guten Morgen, mein Lieber. Willkommen im Licht dieses vielversprechenden vierten Mén-Tages. Der Mén ist ein guter Monat.«

      Léun brummte etwas Unverständliches.

      »Das dachte ich vorhin auch«, sagte der Alte.

      Léun musste grinsen.

      »Aber leider haben wir für heute früh nicht vorgesorgt – nicht mal Eier und Speck sind im Haus. Gestern Abend hast du den ganzen Reis aufgefuttert, also wird es noch eine Weile dauern, bis das Frühstück fertig ist. Mach dich nützlich und hack mindestens zwei Dutzend Scheite Feuerholz, ja?«

      Missmutig stürzte Léun drei Becher Wasser hinunter, damit ihm während der Arbeit nicht der Magen knurrte.

      Sein Großvater ließ den Teig ruhen und säuberte sich die Hände.

      »Wieder der Alptraum …?«, fragte er.

      »Hm«, entgegnete Léun. Er hatte keine Lust, jetzt darüber zu reden.

      »Irgendwann heute früh hast du laut aufgeschrien …«

      Léun knallte den Becher auf den Tisch.

      »Musst dich verhört haben«, sagte er und ging hinaus.

      Als er drei Dutzend Scheite Holz gehackt hatte und sie in die Stube schleppte, war sein Großvater dabei, einen Laib Käse aufzuschneiden. Den aufgehenden Brotteig hatte er mit einem Leinentuch abgedeckt. Léun machte sich daran, das Feuer anzufachen. Er schichtete einige Holzscheite kegelförmig im Herd auf und stopfte die Zwischenräume mit trockenem Heu aus, das in einem Eimer bereitstand. Mit Stein und Feuereisen schlug er Funken. Er hatte Übung darin. Wenig später loderte ein schönes Feuer im Herd. Mit einem Lederhandschuh öffnete sein Großvater die glühendheiße Metalltür zur Ofenkammer und stellte den tönernen Behälter mit dem Teig hinein.

      »So«, sagte er, klappte die Tür zu und entledigte sich des Handschuhs. »Jetzt dauert es nicht mehr lang, bis wir frühstücken können.«

      Es klopfte.

      »Ah, das wird Ciára mit der Milch sein. Machst du ihr bitte auf?«

      Beim Namen der Nachbarstochter zuckte Léun zusammen. Schon beim Holzhacken hatte er ständig zum Weg hin gespäht und gehofft, sie würde vorbeikommen. Wie jeden zweiten Tag würde sie heute eine Kanne Ziegenmilch bringen; manchmal brachte sie auch ein paar Eier mit. So hätte sich eine der seltenen Gelegenheiten ergeben, mit ihr allein zu sein. Ciáras Mutter ließ sie kaum je allein länger von zu Hause wegbleiben. Ihr Vater dagegen scherte sich wenig um sie, saß er doch ohnehin fast ständig in der Mittelhager Schenke und wusste vor lauter Trinken nicht, ob gerade Morgen oder Abend war.

      Léun fühlte sein Herz hämmern, als er zur Tür eilte. Fast stolperte er über eine lose Diele. Das Lächeln seines Großvaters im Nacken, öffnete er.

      »Guten Tag, Lóhan!«, rief das Mädchen fröhlich und winkte an ihm vorbei in die Hütte hinein. Sie richtete den Blick auf ihn. »Morgen, Léun. Ich … wie geht es dir?«

      Er spürte, wie ihm heißes Blut ins Gesicht schoss. Sämtliche Worte, die er ihr sagen wollte, schienen ihm an der Zunge zu kleben wie ausgehungerte Motten an einem Fliegenfänger.

      »Du wirkst, äh, ausgeschlafen«, sagte Ciára mit dem Anflug eines Lächelns und nahm die Milchkanne von der einen in die andere Hand.

      Léun versuchte vergeblich, einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn es nach ihm ging, konnte sich die Übergabe der Milch ruhig noch länger hinauszögern. Beim letzten Mal hatten sich ihre Fingerspitzen berührt, als er ihr die Kanne abgenommen hatte. Seltsamerweise hatte sich das angefühlt, als hätte ihn der Blitz getroffen, wenn auch nicht so stark wie bei der Sache vor zwei Monaten. Zum Glück schien sie nichts von seinem Schock bemerkt zu haben. Ob sie sich noch an das Erlebnis am See erinnerte?

      Und ob sie wohl zu allen Jungen so nett war wie zu ihm?

      Ciára galt nicht gerade als umschwärmt. Ihre mausbraunen Haare, die etwas engstehenden Augen – nicht jeder fand sie hübsch. Er schon. Sehr sogar. Dieses Lächeln! Wie sie ihn anblickte, wie sie sich mit der freien Hand eine Strähne zurückstrich, wie sie die überschwappende Milch zu balancieren versuchte! Warum stellte sie die Kanne eigentlich nicht ab, sie war doch sicher ziemlich schwer?

      »Du … du hast da was«, sagte Ciára mit leicht gepresster Stimme. Flüchtig deutete sie auf eine Stelle unterhalb seiner Gürtellinie.

      Ihm stand doch nicht etwa der Hosenstall offen? Peinlich berührt, schaute Léun an sich herunter. Er zwang sich zu einem ratlosen Grinsen.

      »Ich meine den Fleck auf deiner Hose. Da, am Oberschenkel, siehst du?«

      Mist, schoss es ihm durch den Kopf. Hätte er doch nur besser aufgepasst, als er am Ofen herumhantiert hatte! Fahrig wischte er über die Aschespur, die nicht daran dachte zu verschwinden.

      »Wie sieht’s denn aus mit der Milch, ist die noch frisch?«, brummelte jemand hinter ihnen. Léun hatte die Anwesenheit seines Großvaters angesichts des Mädchens komplett vergessen.

      Eine Handbewegung, die Milch wechselte den Besitzer. Ein Lächeln, ein Winken, die Tür schloss sich. Ihm wurde klar, dass er sich Ciára gegenüber idiotischer und unhöflicher angestellt hatte als jemals zuvor.

      »Setz dich ein Weilchen zu mir«, schlug sein Großvater mit funkelnden Augen vor. »Was hast du heute sonst noch vor, außer angeregt mit Ciára zu plaudern?«

      Léun murmelte etwas von Baden im Mittleren See.

      »Geht in Ordnung, aber sei vor dem Gewitter am späten Nachmittag zurück.«

      Ihm war schleierhaft, woher der alte Mann jeden Tag aufs Neue wissen konnte, wie sich das Wetter entwickeln würde. Schon gar, wo doch die Sonne heute von einem wolkenlosen Himmel auf Grüntal hinunter lachte!

      »Danke übrigens der Nachfrage, ich habe sehr gut geschlafen.«

      Léun grinste verschmitzt und schämte sich ein wenig.

      »Oder das, was man in meinem Alter sehr gut nennt«, fuhr Lóhan augenzwinkernd fort. »Weißt du, wenn man ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, dann ist man froh und dankbar für jeden Moment, den man in dieser Welt noch wach und bewusst erleben darf.«

      »Und gesund«, ergänzte Léun abwesend. Ciáras Worte klangen ihm noch ebenso im Ohr wie ihre glockenhelle Stimme.

      »Genau!« Die blauen Augen seines Großvaters strahlten. »Du weißt es, nicht wahr? Ich meine, dass Gesundheit das höchste Gut im Leben ist?«

      Léun hatte die Frage nicht gehört und nickte.

      »Ich

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