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thronte und ihn aus gelben Augen unverwandt musterte. Allerdings brachen währenddessen tausend Gedanken zugleich über ihn herein, an die er sich sein ganzes Leben lang erinnern sollte.

      Das kann kein Löwe sein, der letzte wurde vor zehn Jahren in Grüntal gesichtet … Ein Sprung, und er reißt mich in Stücke … Götter, hat das Vieh Augen und Pranken, meine Freunde werden mir kein Wort glauben … Wo hab ich bloß meine Steinschleuder gelassen?

      »Zu Hause in Grünhag«, half ihm der Löwe.

      Léuns Gedanken versiegten. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass gerade ein wildes Tier zu ihm gesprochen hatte.

      Der Traum ist gleich vorbei, versuchte er sich zu beruhigen. Ich muss nicht kämpfen. Ich muss nicht weglaufen.

      »Fast richtig. Lange genug bist du weggelaufen. Jetzt ist es Zeit, dich mir zu stellen. Kämpfen?« Der Löwe spreizte die Schnurrhaare und schnaubte vergnügt. »Das wäre zwecklos. So zwecklos, wie sich auf den Weg zum Horizont zu machen, mit einem Sieb Wasser zu schöpfen oder die Flamme von der Kerze loszuschneiden.«

      Die Stimme klang tief und sonor, zugleich hatte sie einen knurrig-belustigten Tonfall, eine Mischung, genau wie sie Léun von einem Raubtier erwartet hätte, das nichts und niemanden zu fürchten brauchte. Einerseits klang sie so weich und samtig, wie das Fell des Löwen aussah, andererseits aber auch so bedrohlich und tödlich, wie seine scharfen Krallen Wunden rissen. Seltsamerweise kam Léun die Tonlage dieser Stimme unendlich vertraut vor.

      Was jetzt?, dachte er.

      »Das weißt du doch«, erwiderte der Löwe freundlich. »Ich werde dich verschlingen, auf dass du mich dir einverleibst und endlich zusammengefügt wird, was so lange getrennt gewesen ist.«

      Wenn ich nur endlich aufwachen könnte!

      »Wovor hast du Angst?«, fragte der Löwe.

      Ungläubig starrte Léun ihn an.

      Vor dir, dachte er.

      »Wovor hast du Angst?«, wiederholte der Löwe mit dröhnend lauter Stimme.

      Vor deinen Krallen. Deinen Zähnen. Vor Schmerzen und davor, zu bluten. Vor dem Tod.

      Der Löwe erhob sich, spannte die Muskeln. Sein Schwanz peitschte die Luft. Er riss den Rachen auf.

      »Wovor hast du Angst?«, brüllte er zum dritten Mal.

      Vor dem Sterben, dachte Léun.

      »Du lügst«, sagte der Löwe. Und sprang fauchend auf ihn zu.

      Mächtige Pranken trafen Léun an den Schultern. Er wurde rücklings zu Boden geschleudert. Sein Hinterkopf schlug hart irgendwo auf, und für einen Moment sah er nichts mehr außer bunten, tanzenden Funken. Verzweifelt versuchte er sich herauszuwinden aus dem unbarmherzigen Griff der Raubtierpranken, doch er war gefangen. Dem jagenden Untier hilflos ausgeliefert.

      Und dieses riss ohne Gnade seine Beute.

      Léun stöhnte vor Schmerz, als der Löwe ihm die Krallen ins Fleisch grub. Er spürte, wie sein eigenes warmes Blut aus tiefen Wunden hervorschoss und an seinem Körper herunterlief. Er schrie, wie er nie zuvor geschrien hatte. Das Leben in seinem Körper bäumte sich gegen die Bedrohung auf … und für einen kurzen Augenblick kehrte die klare Sicht zurück.

      Der Löwe öffnete das Maul und entblößte blitzende, fingerlange Reißzähne. Dann senkte er den Kopf, um seinem Opfer die Kehle durchzubeißen.

      Es ist aus mit mir …

      Da geschah etwas Unerwartetes.

      Dunkelheit kroch aus dem Rachen des Löwen und breitete sich über Léuns Gesichtsfeld wie ein samtenes schwarzes Tuch. Tausend Funken glommen auf und erfüllten die Dunkelheit wie Sterne einen klaren Nachthimmel.

      Augenblicklich fühlte er sich leicht. Seine Schmerzen waren wie weggeblasen, sein Leben nicht mehr in Gefahr. Es gab kein Hier, kein Dort, kein Gestern und kein Morgen – nur ein unbegreifliches Überall.

      Wo bin ich?, wollte Léun fragen, doch die Worte blieben reine gedankliche Regung, bevor sie Form annehmen konnten; fast wie wenn er die erste Note eines vertrauten Liedes anstimmte und seine Freunde nach und nach einfielen. Auf einmal nahm er den Widerhall dieses Liedes aus allen Richtungen und sämtlichen Zeiten wahr – und er wusste, dass es auf seine Frage nur eine einzige Antwort gab.

      Ja.

      Blödsinn, wollte er widersprechen.

      Die Frage war nicht zu beantworten; sie stellte sich erst gar nicht. Trotzdem war sie berechtigt und willkommen. Wie eine passende, durch nichts zu ersetzende Note in einem unendlichen, vielstimmigen Weltenlied.

      Deshalb Ja.

      Und Léun begriff staunend, dass dies auch die richtige Antwort auf die Frage des Löwen gewesen wäre.

      Siehst du, sagte der Löwe und lachte.

      Wer bist du?, sandte Léun verzweifelt eine neue Note in das Lied hinein.

      Da erloschen die Lichter, die Musik verklang, und es wurde dunkel um ihn herum.

      Donnergrollen ließ ihn zu sich kommen. Er schlug die Augen auf. Über sich sah er das Blätterdach des Grünwalds, dahinter ballten sich gelbschwarze Wolken. Ein knorriger Auswuchs der Baumwurzel drückte ihn im Nacken. Er setzte sich auf, um Arme und Oberkörper beäugen zu können.

      Kein Blut. Bis auf die Schrammen, die er Grantis Hunden zu verdanken hatte, war er unverletzt.

      Léun kam nicht umhin prustend loszulachen. Er ließ sich wieder zur Erde sinken, wälzte sich laut lachend auf den Bauch und legte die Stirn auf die Baumwurzel. Tief sog er den Duft von Laub und Erde ein, atmete aus und lachte, bis ihm die Tränen kamen und der Bauch wehtat.

      Dieser verflixte Alptraum!

      Kein Zweifel – er war gestürzt und hatte für kurze Zeit das Bewusstsein verloren. Das Monster, das ihn angefallen hatte, war eine Illusion gewesen. Dieselbe Illusion, die ihn fast jede Nacht im Traum heimsuchte.

      Er erhob sich, wischte sich ein paar klebende Blätter von Brust und Bauch und wollte seine Kleider aufsammeln.

      Sie waren nicht da.

      Dafür war starker Wind aufgekommen. Die Wipfel der Bäume wogten. Äste knarrten, Stämme ächzten. Schon gingen die ersten dicken Regentropfen nieder. Innerhalb weniger Atemzüge schwoll das Geräusch zu einem gleichmäßigen Rauschen an.

      Léun hob den Kopf, um die Lage des Unwetters abzuschätzen. Im selben Moment zuckte ein gleißender Blitz über den dunklen Himmel, dicht gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag.

      »Verflixt«, knurrte er, duckte sich und zitierte mechanisch den dritten Vers aus einem alten Lied, das ihn sein Großvater hatte auswendig lernen lassen: »Halt dich im Zaum, Gypto! Ich habe kein Dach über dem Kopf … und außerdem hab ich nichts an!«

      Doch davon ließ sich Gypto, der Gott der Stürme, nicht beeindrucken. Schon goss es wie aus Eimern. Die einzelnen Tropfen waren groß wie Kastanien. Das Laubwerk hatte ihnen nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen.

      Léun beeilte sich, die Umgebung nochmals nach Hemd und Hose abzusuchen. Er lief um den Löwenfelsen herum, doch vergebens. Wenn seine Freunde hier gewesen waren, dann hatten sie seine Kleider mitgenommen.

      Blödiane.

      Mit jeder Minute, die verstrich, wurde der Regen stärker. Es war unglaublich dunkel geworden. Das zur Erde strömende Wasser hatte den Grünwald sämtlicher Farben beraubt. Die Sicht verringerte sich bis auf wenige Schritte. Blitz und Donner jagten einander in immer kürzeren Abständen, und der Wind fegte heulend durch den Wald. Blätter und kleinere Zweige trudelten zu Boden. Auf einmal glaubte Léun, in unmittelbarer Nähe einen Baum krachend umstürzen zu hören.

      Er gab auf und trat den Rückzug an. Bis nach

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