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kleines Feuer gekauert, Fahrräder schoben sich quietschend durch die Dunkelheit, Menschen mit und ohne Gepäck waren unterwegs nach wer weiß wo. Je näher sie dem Fluss kam, desto stärker hörte sie sein Rauschen, zuerst kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher. Die Brücke spannte sich waghalsig über den Ganges, silbern schimmernde Wellen. Zu den vielen Düften kam jetzt noch der Geruch des Wassers, doch auch das Wasser roch anders als der Main zu Hause.

      Einen Moment lang kam sie sich ganz einsam und verlassen vor. Mutterseelenallein, achttausend Kilometer von zu Hause entfernt, unter Menschen, deren Sprache sie nicht verstand und deren Kultur ihr fremd und unverständlich vorkam. Doch im nächsten Moment fühlte sie sich aufgehoben und geborgen. Erkenne das alles durchdringende Bewusstsein. Deshalb war sie hier. Dieses Bewusstsein, von dem sie den Zipfel einer Ahnung spürte, war in allen dasselbe – in den Indern an ihren Lagerfeuern wie in ihr selbst, in Utz, der oben im VW-Bus schnarchte und in Rob aus Holland, der sie in ein, zwei Stunden zum Guru führen würde.

      Sie nahm einen tiefen Atemzug. Es lohnte sich kaum, noch einmal zum Bus zurückzugehen. Frierend suchte sie den Weg zur oberen Brücke, das Laufen wärmte sie kaum. Wann ging endlich die Sonne auf! Der Himmel im Osten hatte sich noch kein bisschen aufgehellt, es mochte vier Uhr sein. An der Lakshma Jhula angekommen, hüpfte sie auf der Stelle und trabte ein paar Runden im Kreis, um sich etwas aufzuwärmen, als Robs tiefe Stimme sie aus der Dunkelheit ansprach. „Hi there“, begrüßte er sie wieder. „Du bist ja tatsächlich gekommen!“

      „Ich hab’s doch versprochen“, antwortete sie. Hatte er ihr nicht geglaubt?

      Statt auf ihre Antwort einzugehen, sagte Rob nur: „Komm!“ Er griff nach ihrer Hand, sie gab sie sie ihm gern. Robs Hand war groß und warm, er wirkte stark und entschlossen. Das gefiel ihr. Ihre Eingeweide wussten, dass sie mit ihm schlafen würde, früher oder später.

      Rob hatte einen dicken Wollpullover an, einen Armeeparka, zwei oder drei Schals und eine Mütze. Ich bin eindeutig unpassend gekleidet, dachte Jeannie noch, da zog er sie schon mit sich. Nur ein paar Ecken, dann standen sie vor einem eher unauffälligen Haus mit einer großen Veranda, auf der sich im beginnenden Morgengrauen schon einige Gestalten herumdrückten.

      „Wo ist der Guru?“, fragte Jeannie flüsternd. Sie wusste nicht genau, was sie sich vorgestellt hatte, aber hier war definitiv kein Guru zu sehen. Rob flüsterte zurück: „Der hat sich vorgestern für eine Woche Schweigen in seine Kammer zurückgezogen. Aber“, fügte er gleich hinzu, als er Jeannies Enttäuschung spürte, „die Kammer ist gleich da hinter der Wand, die an die Veranda stößt. Er ist also praktisch anwesend. Du kannst seine Energie spüren, darauf kommt es an.“

      „Und was machen wir jetzt?“

      „Wir suchen uns einen Platz auf der Veranda und meditieren.“

      Na toll. Sie würde sich also hinsetzen und versuchen, sich zu konzentrieren und an nichts zu denken. Hinter Rob kletterte sie auf die hölzerne Veranda hinauf, suchte sich einen einigermaßen windgeschützten Platz an der Mauer. Verflixt, warum habe ich mich nicht wärmer angezogen! Rob schien ihre Gedanken lesen zu können. Er wickelte sich aus einem seiner drei Schals und gab ihn ihr. Sie schlang ihn sich um Hals und Ohren und versuchte, so gut es ging, auch noch die Hände darin einzuhüllen, die klamm und eiskalt waren. Kaum hatte sie sich halbwegs bequem hingesetzt, kam eine Frau auf sie zu und begann ebenfalls flüsternd, aber eindeutig wütend auf sie einzureden. Jeannie verstand kein Wort, aber der Tonfall machte unmissverständlich klar, was Sache war. Anscheinend hatte sie es gewagt, sich auf einen reservierten Platz zu setzen und der unverständliche Wortschwall musste in etwa bedeuten: Schleich dich, du dumme Tussi! Hier sitze ich! Einen Moment rang Jeannie mit sich selbst, ob sie sich auf einen Streit einlassen sollte oder sich als der totale Neuling lieber trollte. Im Moment schien es ihr tatsächlich klüger, nachzugeben. Ohne aufzustehen, robbte sie einen Meter nach vorn. Jetzt hatte sie den Windschatten verloren und hatte keine Wand mehr, um sich anzulehnen. Rob saß schon im Schneidersitz, die Hände auf den Knien und die Augen geschlossen, reglos da. Seine Silhouette zeichnete sich scharf gegen den Himmel ab, der nun im Osten doch allmählich von einem fahlen Indigo in ein Violett, ein beginnendes Rot überging. Ein paar kleine Wolkenfetzen standen hoch oben unbeweglich, färbten sich gerade orange, die Farbe der Sadhus, der Eremiten und heiligen Männer.

      Sie versuchte eine einigermaßen entspannte Sitzposition zu finden und sich zu konzentrieren.

      Und das war nicht so leicht.

      Gar nicht leicht.

       Die blöde Kuh! Meint wohl, sie hätte einen Anspruch auf diesen Platz!

      Jeannie versuchte den Gedanken wegzuschieben.

      Aber er kam immer wieder.

       Blöde Kuh, blöde Kuh, blöde Kuh!

      Und dann der nächste Gedanke: Hey, die hält sich wahrscheinlich für besonders heilig. Ganz nah dran am Guru, praktisch nur durch eine dünne Holzwand getrennt. Hält sich wohl für was Besseres. Gar nichts ist besser an der! Egoistische Kuh, blöde!

      Unwillig versuchte Jeannie erneut, den Gedanken wegzuschieben. Aber der war hartnäckig. Kam immer wieder.

      In einer Ecke der Veranda war jetzt ein kleiner Sonnenfleck zu sehen. Breitete sich allmählich aus. Aber es war immer noch bitter kalt. Jeannies Hände waren taub, an der Nase hing ein kalter Tropfen. Der Hintern schlief ihr langsam ein, die Sitzhaltung war derart unbequem. Vorsichtig sah sie sich um, versuchte, nur die Augen zu bewegen, nicht den Kopf. Die anderen hatten praktisch alle ein Kissen unter sich. Nur ich bin zu blöd, mir die Ausrüstung zu besorgen! Wie komme ich eigentlich auf die Idee, ich könnte meditieren! Wie komme ich auf die Idee, das sei etwas für mich…

      Sie versuchte, die Sitzposition ein bisschen zu verändern, und merkte, dass ihr rechtes Bein eingeschlafen war. Der helle Fleck auf dem Holzfußboden hatte sich ausgebreitet, aber noch immer war von der Wärme der Sonne nichts zu spüren. Jeannie fühlte ihre Füße nicht mehr; sie wusste nicht, ob das an der Kälte lag oder daran, dass sie auch eingeschlafen waren.

       Kalt, kalt, kalt…

      Und dann wieder: Ich hatte so einen guten Platz, so schön windgeschützt, und dann kommt diese blöde Kuh und verjagt mich. Was bildet die sich eigentlich ein! Redet vorn herum wahrscheinlich ganz toll vom Inneren Licht und von der kosmischen Liebe, aber hinten rum tritt sie dich in den Arsch. Blöde Kuh! Ja, ja, All you need is love, yeah. Verdammter Mist, noch mal!

      Ob John Lennon auch so gefroren hat? Nee, Quatsch, die waren ja wohl im Sommer hier, oder? Den Bildern nach zu schließen, die sie vom Aufenthalt der Beatles beim Maharishi gesehen hatte, war es warm gewesen.

       Ich halt’s nicht mehr aus.

      Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit bisher vergangen war.

       Wie lange sollen wir hier eigentlich rumsitzen?

      Von den anderen hatte sich noch niemand gerührt. Die haben alle Übung. Meditationsfreaks. Bloß ich bin die blöde Anfängerin. Was habe ich mir eigentlich gedacht?

      Sie versuchte die Zehen zu bewegen, aber sie hatte kein Gespür mehr darin.

       Ich kann nicht mehr.

       Wozu soll das alles eigentlich gut sein?

      Sie holte tief Luft.

       Schluss. Aus. Ich mag nicht mehr.

      Aufgeben? Sie hatte ja noch gar nicht richtig angefangen.

      Die Sonne beschien jetzt die Hälfte der Veranda, nur bis zu ihrem Platz war sie noch nicht vorgedrungen. Sie blinzelte. Dort drüben saß Rob, eingehüllt in einen warmen Schein; die Strähnen, die ihm wirr um den Kopf hingen, leuchteten im Gegenlicht. Gerade als sie zu ihm hinübersah, bewegte er behutsam seine Schultern, ließ sie etwas kreisen, saß dann wieder unbeweglich.

       Okay, Schluss. Es geht nicht mehr.

      Sie gab auf. Vorsichtig wickelte

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