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einmal an der Schale genippt, da setzte sich ein Mann neben sie. Ende zwanzig, groß gewachsen, braun gebrannt, schulterlanges Haar, um den Hals baumelten mehrere Ketten aus Muscheln und Glasperlen. „Hi there. Where are you from?” Die üblichen ersten Fragen unter Travellern. „How long have you been travelling?“ Jeannie war froh, jemand zum Reden zu haben, und lächelte den Fremden an. Der lächelte aus auffallend blauen Augen zurück. „I’m Rob“, stellte er sich vor, „from Leiden, Netherlands.“

      Ihr Englisch war ziemlich holperig, aber sie gab ihr Bestes. Sie fragte Rob aus. Was hatte ihn nach Rishikesh gezogen? War er auch auf der Suche? Ihr Herz machte einen Sprung, als er von einem Ashram erzählte, indem ein gewisser Shree Satpal Ji lehrte, auch Maharaji genannt. „Maharaji? Ist das ein Guru? Kannst du mich zu ihm bringen?“ Rob lachte ein tiefes, voll tönendes Lachen. „Siehst du“, sagte er mit seinem holländischen Akzent, „du brauchst gar nicht zu suchen, das Leben findet dich von selbst.“ Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen vor Sonnenaufgang an der Lakshman Jhula, der anderen Brücke, die sich drei Kilometer entfernt ebenfalls über den Ganges spannte. Dann sagte Rob noch einen Satz, der sich Jeannie einbrannte: „Maharajis Lehre ist ganz einfach: Erkenne dich selbst. Erkenne das Bewusstsein, das alles durchdringt. Das bist du.“

      Das war es. Danach hatte sie gesucht. Das Bewusstsein, das alles durchdringt. Sie verabschiedete sich von Rob und stand auf. „Morgen früh, halb fünf“, rief er ihr nach. „Ich warte hier auf dich!“ Sie drehte sich zu ihm um, hob den Daumen. „Ich komme, versprochen.“ Dann setzte sie den Fuß auf die schmale, fragil wirkende Hängebrücke, tauchte ein in den Strom der Sadhus in orangen Dhotis, der Hippies mit ihren Fransentaschen und der indischen Bauern, Geschäftsleute und Hausfrauen im farbenprächtigen Sari.

      ***

      Als sie ihren ersten und einzigen Trip warf, hätte Jeannie nie vermutet, dass er sie ziemlich direkt in diese bunte, aufregend fremde Welt führen würde. Eigentlich hatte sie sich so gut wie gar nichts davon versprochen, außer, dass es ein bisschen Abwechslung bringen könnte, Ablenkung von dem ewigen Kreisen um Johnny, Johnny, Johnny. Um seinen Brief, den letzten, den sie von ihm bekommen hatte, in dem er ihr unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er sie nie, nie, nie wieder sehen wollte. Sie hatte es nicht geglaubt und sofort geantwortet, aber schon nach zwei Tagen lag ihr eigener Brief wieder im Kasten. Ungeöffnet. Zurück an Absender. Da wusste sie, dass er es diesmal ernst meinte.

      Und das Gedankenkarussell fing an zu kreiseln. Warum nur, was hätte ich denn anders machen sollen, was hätte, wäre, könnte… All die nutzlosen Grübeleien. Sie wollte runter von dem Karussell. Nahm dankbar an, als Bine, die Kollegin von der Kardiologie, sie zu einer Party einlud.

      Eine WG in einem Altbau, abbröckelnde Stuckdecken, das ehemals edle Parkett total zerkratzt, mit Farbspritzern bekleckert, ein großes Wohnzimmer, mit Matratzen ausgelegt, darauf bunte indische Tücher, ein großer Flokati, Räucherstäbchen, Tropfkerzen auf Flaschen überall im Raum, in den Ecken irgendwelche Abfälle. Bücher, Zeitungen, Flugblätter auf allen Flächen, Teller mit Essensresten, umgekippte Gläser, laute Musik von King Crimson oder sonst einer Underground-Band, sie kannte sich da nicht so gut aus, trotz ihrer langen Geschichte mit Johnny. Zwei Dutzend Leute, Männer mit langen Haaren und Bärten, Frauen in indischen Kleidern, Silberschmuck, Dutzende von Ketten und Ringen, Federn, Schals. Die Atmosphäre stickig von Rauch unterschiedlicher Herkunft, laute Gespräche, Lachen, Diskutieren. Genau das Richtige, um für einen Abend auf andere Gedanken zu kommen.

      Hier lernte Jeannie Utz kennen. Utz war ein Hüne, dem das Haar bis weit über die Schultern fiel. Nickelbrille, Vollbart, ein dicker Joint zwischen den Fingern. Ihr gefiel, wie er mit lauter Stimme über Dinge redete, von denen sie bestenfalls ein Viertel verstand, wobei ihr nicht ganz klar war, ob das an ihrer Unwissenheit lag oder an dem offenkundigen Durcheinander seiner Gedanken. Er schien ziemlich high zu sein, wer weiß wovon. Irgendwann stand sie in der verdreckten Küche neben ihm und fragte, wo es Weißwein gebe. Er maß sie von oben bis unten mit dem Blick, dann grinste er spitzbübisch hinter seinem Vollbart und sagte: „Ich hab auch bessere Sachen als Weißwein.“ Jeannie wollte erst dankend ablehnen, dann überlegte sie es sich anders. Sie wollte doch auf andere Gedanken kommen. Da kam ein Experiment mit einer mutmaßlich verbotenen Substanz doch gerade recht.

      „Ich hätte ein schönes Acid da…“

      Ein bisschen misstrauisch schaute Jeannie das Stückchen Löschpapier an, das Utz ihr auf die ausgestreckte Hand gelegt hatte. Das sollte einen Trip geben? Wie Utz ihr geraten hatte, legte sie das Papier auf die Zunge, lutschte daran herum. Es schmeckte nach gar nichts, allenfalls nach Pappe. Aber es waren ja auch nur 150 Mikrogramm LSD drauf. Schmecken konnte man das keinesfalls. Allerdings wusste sie als Krankenschwester sehr genau, welch gewaltige Wirkung manche Chemikalien schon in geringster Dosierung entfalten, warum also nicht auch Lysergsäurediethylamid.

      Sie ging wieder ins Zimmer, setzte sich auf eine der Matratzen, wartete. Eine ganze Weile tat sich gar nichts, doch nach einer halben Stunde schienen die Gläser und Flaschen vor ihr auf dem Tisch die Form zu ändern, wie in einem Zerrspiegel. Plötzlich konnte sie die Musik, die immer langsamer in immer dickflüssigeren Tropfen, farbigen Schlieren, aus den Lautsprechern rann, schmecken. Utz kam vorbei, lachte sie an. Seine Worte widerhallten hundertfach in ihrem Kopf. „Na, spürst du schon was?“ Über diesen absurden Satz musste sie schrecklich lachen, und das Lachen quoll ihr wie Seifenblasen aus Mund und Nase. Sie wurde immer leichter, wurde selbst zur Seifenblase. Begann zu schweben. Die Musik trug sie wie eine Fontäne hinauf, immer höher, zur Zimmerdecke, durch die Decke hindurch in einen wilden Zauberwald, in dem kleine pelzige und fedrige Tiere durch violette Schatten huschten. Die Gesichter der Leute im Zimmer waren auf die riesigen Urwaldbaumblätter gemalt, die Gespräche verebbten in unendlicher Langsamkeit. Die Musik wurde immer blaustichiger, dann auf einmal explodierte sie in kräftiges Orange, durch den Zauberwald sah sie das Zimmer, die Balkontür, wollte hinaus, den Himmel sehen. Sie stand auf, durch den Schwung des Aufstehens segelte sie bis an die Decke, ging kopfunter an der Decke entlang, sah alles von oben, es war unglaublich lustig. Ihre Bewegungen waren extrem verlangsamt, wie in Sirup, überhaupt wurde alles wie Sirup, dicker, minzefarbener Sirup, ihre Stimme wie Sirup, die mächtige Gestalt von Utz wie Sirup, alles löste sich auf in Sirup, in Sirup.

      Dann war der Sirup weg.

      Alles war weg.

      Die Wände des Raums kippten weg.

      Sie schwebte im Weltall, Milliarden und Abermilliarden von Sonnen kreisten, dazwischen sie, schwebend,

      die Sonnen kreisten in ihrer Brust

      sie schwebt inmitten der Sonnen

      die Sonnen kreisen in ihr

      innen ist außen, außen innen

      sie fällt

      stürzt

      alles fällt durch sie

      stürzt in sie hinab, durch sie hindurch, in ihre Mitte

      ihre Mitte ist die Mutter der Galaxien

      Galaxien lösen sich auf

      sie stürzt

      ins Bodenlose

      kein Boden nirgends

      keine Sterne mehr

      gleißende Dunkelheit

      grell schwarzes Licht

      All-eins-Sein

      Glückseligkeit

      zeitlos unendlich

      Fülle

      Nichts

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