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stand eine Gruppe von Soldaten. Sie riefen mir was Hebräisches zu, ich verstand kein Wort.

      Die nächste Gasse lag größtenteils unter gewölbtem Steindach. Darunter war es dunkel und kühl. Ein betagter Araber saß allein neben einem gezimmerten Stand mit Arafat–Tüchern und handgemalten Bildchen von Old Jerusalem. Auf einem Tischchen wartete ein geöffnetes Backgammon Spiel. Gemächlich schlurfte ein zweiter Mann hinzu und setzte sich auf den wackeligen Holzstuhl. Wortlos begannen die beiden zu spielen.

      Als ich um die letzte Ecke des langen Ganges bog, erstreckte sich vor mir ein großer Platz voller Menschen, begrenzt durch eine hohe Mauer mit einer Absperrung davor. Nur wer jüdischen Glaubens war, durfte hinter die Absperrung, die die Fläche in eine rechte und eine linke Hälfte aufteilte. Links ausschließlich Männer, die dicht vor der Mauer ihre Köpfe hoben und senkten, dabei murmelten oder sangen, rechts die Frauen, die dasselbe taten. Ich befand mich an der berühmten Klagemauer.

      Auf der Seite der Männer führte ein Tor in das Innere des Steinpalastes. Das Tor stand offen, aber drinnen war es dunkel, ich konnte nichts erkennen und hatte auch keine Idee, was sich Geheimnisvolles dahinter abspielen könnte.

      Alle anwesenden Männer trugen eine Kipa auf dem Hinterkopf, diese halbe Mütze, die von einer Haarnadel gehalten wird. Nur die Gestalten in schwarzen Anzügen mit langem Gehrock bedeckten ihr Haupt mit hohen Hüten, unter denen zu beiden Seiten des Gesichts Schillerlocken herabhingen. Ihre schwarz umrandeten Brillen mit den extrem dicken Gläsern sprangen ins Auge. Das kam wohl vom vielen Thora Lesen, so heißt das hebräische Haupt-Gebetsbuch. In der jüdischen Religion gibt es mehrere Bücher.

      Die Menschen vor der Absperrung waren nicht zum Beten hergekommen, sie warteten auf die Betenden.

      Auf der anderen Seite des Platzes führten breite Treppenstufen hoch zu einem Wachhäuschen für israelische Soldaten. Tag und Nacht hielten sie Wache, um eventuellen Aufruhr zwischen Juden und Arabern sofort einzudämmen. Von dort oben hatten sie den gesamten Platz im Überblick.

      Hinter der Klagemauer erhob sich die in der Sonne glänzende, goldene Kuppel des Felsendoms, der Al-Aqsa-Moschee, eines der ältesten Heiligtümer des Islam. Von hier aus soll Mohammed, der islamischen Tradition nach, die Himmelfahrt angetreten haben und seine Begegnungen mit den früheren Propheten des Judentums, auch mit Jesus.

      Ich setzte mich auf eine der Stufen, sah dem Schauspiel zu und sog den Klang ein.

      Stundenlang bewegte ich mich nicht von der Stelle. Die Altstadt von Jerusalem war ein ganz besonderer Platz, Brennpunkt großer Weltreligionen, die auf diesem Planeten vorherrschen. Juden wie Moslems sehen sie als Hauptsitz ihrer Glaubensrichtung an. Dafür kämpfen sie, opfern ihre Kinder, ihre Großmütter, ja sich selbst.

      Ist euer Gott denn so klein, frage ich, dass er eine Stadt braucht? Gott ist doch größer als die ganze Welt. Ist unter dem Begriff Gott nicht die Energie zu verstehen, die alles Leben und diesen Planeten erschaffen hat? Ist es nicht lächerlich, zu meinen, dieser mächtigen Kraft müsse man einen Sitz zuordnen? Welcher sollte denn passend für sie sein? Ist nicht jeder Platz, den Menschen sich ausdenken, zu klein und nicht an der richtigen Stelle? Oder umgekehrt: Ist Gott nicht überall, allgegenwärtig und in jedem Haus zu Hause? Ist nicht jeder Platz, jeder beliebige Punkt der Schöpfung, der rechte Ort?

      Als die Dunkelheit hereinbrach, ging ich nach oben. Die Soldaten im Wachhäuschen interessierten sich für mich und ich mich für sie. Einige von ihnen sprachen englisch.

      Der erste hieß Moshe, zu deutsch Moses. Den nächsten nannten sie Avi, Kurzform von Avraham, zu deutsch Abraham. Der dritte wurde Jossi gerufen, israelischer Spitzname für Josef, der vierte war David, wie der gleichnamige König, der einst in diesem Tempel herrschte, dessen letzte Grundmauer die Klagemauer ist.

      Ich war mir nicht sicher, ob sie sich einen Scherz mit mir erlaubten. Die hießen ja immer noch alle wie vor zweitausend Jahren. War bei denen die Zeit stehengeblieben?

      Sie erzählten mir von Moses, vom Stammvater Abraham und von den anderen Figuren, die ich aus der Bibel kannte. Das Witzige war, sie sprachen von diesen Menschen so wie ich von meinem Onkel oder von meinem Urgroßvater. Für sie ist die Bibel nicht ein Buch über eine andere Zeit, nein, es ist das Buch ihrer Vorfahren, ihrer Historie. Sie fühlen ihre Verwandtschaft mit den biblischen, israelitischen Stämmen. Die Monumentalfilme, die uns im Westen zu Ostern und Weihnachten einen kleinen Einblick geben von dem, was sich damals in diesem Teil der Welt zugetragen hat, sind jedem Israeli präsent, als wäre es gestern gewesen. Ihre Geschichte beziehen sie mit in den Alltag ein. Jedes Jahr essen sie eine Woche lang ungesäuertes Brot, ähnlich unserem Knäckebrot, um sich an die Zeit ihrer vierzigjährigen Wüstenwanderung zu erinnern. Jährlich feiern sie Sukkot, das Laubhüttenfest, an dem jeder eine kleine Hütte aus Palmwedeln vor seinem Haus aufbaut, um sich daran zu erinnern, wie sie einst während der Wanderschaft in Laubhütten lebten. Bis heute lassen sie den letzten Bissen eines Mahls auf dem Teller liegen als Symbol: Für den nächsten, der an diesen Rastplatz kommt, ist noch Essen da. Man hat an den, der nach einem kommt, gedacht. Eine menschliche Geste, die ihren Zusammenhalt und ihre Sorge um- und füreinander zeigt. So gilt es in Israel als höflich, wenn du nicht alles aufisst, während es in Deutschland ein Lob an die Kochkunst der Hausfrau ist, wenn du deinen Teller ratzekahl leerputzt.

      Die israelischen Kinder müssen ihre Geschichte nicht wie wir aus Büchern, von Lehrern oder Eltern erfahren, sie leben sie. Anhand der Feste wissen sie genau, was wann vorgefallen ist. Jedes Kind lernt die eigene Geschichte am Leben selbst, und alle identifizieren sich damit. Unsere deutsche Geschichte kenne ich, weil ich in der Schule Geschichtszahlen auswendig lernen musste und weil meine Eltern und Großeltern hin und wieder vom Krieg erzählten. Außer dass wir dankbar sein sollten, wie gut wir es heute haben, hatte ich zu der ganzen Angelegenheit keinen Bezug, weder zu Kaiser Wilhelm noch zu den Nationalsozialisten. Wenn von denen die Rede war, wurde es sowieso immer dubios. Die verschiedenen kleinen und großen deutschen Reiche hatten mit mir weiter nichts zu tun.

      Durch den Schamanen erfuhr ich später von auswendig lernen und inwendig lernen. Die Israelis lernen inwendig. Jeder von ihnen trägt einen roten Faden in sich, anhand dessen er sein Leben, seine Vorgeschichte, seine Stammeszugehörigkeit bis an den Ursprung verfolgen kann. Das will ich auch! Beneidenswert. Ich kannte nicht einmal meine Eltern. Wünschte von ganzem Herzen, dass Gott mich hätte als Israeli zur Welt kommen lassen. Es muss sich wunderbar anfühlen, wenn du einen Ursprung hast, den du kennst und fühlst, und neben dir Menschen, denen es genauso geht.

      Jedes Kind in Israel weiß, wo es weltpolitisch steht. Von Feinden umringt. Das wachste Volk, das ich jemals erlebt habe, alle ihre Antennen ständig ausgefahren. Geistige, soziale und genetische Verbundenheit untereinander, wie ich sie nirgendwo fand, einzigartig in ihrer Art. Eine einzige Großfamilie. Und Israel ist ihr Zuhause. Wie gern hätte ich zu ihnen gehört. Zudem betrachten sie ihr gesamtes Dasein als ein von Gott gesegnetes, sie stehen in permanenter Verbindung zu Gott, den sie Eloim nennen. Ich weiß, wir alle stehen in permanenter Verbindung zu dem, was uns geschaffen hat, allein durch unseren Atem, dazu muss man nicht Jude sein. Aber wie ihr Bewusstsein im alltäglichen Leben von der Anwesenheit des Schöpfers, egal, wie man ihn nennt, durchdrungen ist, wie lebensnah sie mit und durch Gott sind, beeindruckte mich zutiefst. Welche Kraft geht daraus hervor! Israelis erfinden Innovationen auf allen Gebieten, bringen Denker wie Einstein und ausgezeichnete Musiker hervor. Selbst wenn man nichts über sie weiß, spürt man es doch, wenn man im Land ist. Es ist das, was sie ausstrahlen, das, was in der Luft liegt, was du wahrnimmst, wenn du dich unter ihnen bewegst.

      Die Verbundenheit dieser Menschen mit ihrem Land, ihrer Geschichte, mit Gott und mit sich selbst, zog mich als Suchende natürlich an wie sonst nichts. Anfangs wusste ich nicht, was mich zu ihnen hinzog, ihre Anziehungskraft fesselte mich nur maßlos.

      Bis nach Mitternacht blieb ich bei den Soldaten, dann trat ich den Rückweg in die Jugendherberge am Jaffa-Gate an.

      Am nächsten Tag durchkreuzte ich das christliche Viertel. Breitere Gassen, neuere Fassaden. Ich fand die Via Dolorosa, die Straße des Schmerzes, die Jesus seinen letzten Gang entlanggegangen ist, als er das Kreuz auf dem Rücken trug und die Dornenkrone auf dem Kopf. Im Nachhinein wurde zu seinen Ehren an dieser Stelle eine Kirche errichtet.

      So

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