Скачать книгу

Daumen auf das Straßenschild.

      Tatsächlich. Broadway. Nicht zu fassen.

      „Jaja,“ grinste er überheblich, „ihr auf der anderen Seite vom großen Teich meint immer, Broadway sei nur das Lichtermeer, das ihr aus dem Fernsehen kennt, aber der Broadway ist verdammt lang und er fängt genau hier an. Du brauchst nur diese Straße aufwärts zu gehen, irgendwann wirst du dort hinkommen, wo es so aussieht, wie du es erwartest. Und nun bye, ich habe noch zu tun. See you later.“ Weg war er.

      Ich atmete tief durch und marschierte los, beobachtete die mir entgegen kommenden Menschen, die Autos, die Häuser, die Geschäfte, das Leben und Treiben New Yorks.

      Mit jeder gelaufenen Stunde stieg die Anzahl der Fußgänger, der Fahrzeuge, Geschäftshäuser und Lichter. Die Straße bereits mehrspurig, erspähte ich in der Ferne die riesige Werbetafel unweit der Theaterhäuser, den berühmten Teil des Broadways. Das aus dem Fernsehen bekannte Bild live wiederzuerkennen, erfreute mich ungemein.

      Auf einmal setzte mein Herz aus. Vor der Rolltreppe eines U-Bahnschachts lag ein Mann reglos am Boden, ein Farbiger, sein Kopf blutüberströmt. Passanten stiegen über ihn hinweg, als sei er eine herumliegende Plastiktüte. Vereinzelte drehten sich nach ihm um. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Soviel Ignoranz durfte doch nicht wahr sein. Geschockt, bewegungsunfähig, ein Loch im Kopf anstatt eines klaren Gedankens, schob mich die Menschenmenge vorwärts und ich ließ mich weiterschieben.

      In meinem Hirn ratterte es. War der Mann tot? Wie kann ich ihm helfen? Wieso hilft niemand? Wird er verfolgt? Droht Gefahr, wenn ich ihm helfe? Dürfen Weiße hier überhaupt Schwarzen helfen oder bekomme ich dann mit allen Ärger?

      Ohnmächtig und verzweifelt verurteilte ich mich dafür, vorbeigegangen zu sein, ohne einzugreifen, irgendwie auch Rassist zu sein. Ich unterteilte in Schwarz und Weiß, anstatt nur an den Menschen zu denken. Und ich war auch ein Egoist, wenn mich meine privaten Ängste davon abhielten, einem Menschen zu helfen, zumal die Befürchtungen nur in meinem Kopf stattgefunden haben. Wie feige! Ich verachtete mich zutiefst.

      Betäubt vom Schock über dieses Erlebnis und meine eigene Unfähigkeit, trugen mich meine Beine über den Broadway hinaus in den Central Park.

      Auf dem Rasen unter einem hohen Baum ließ ich mich nieder. Seine ausladenden Äste boten mir Schatten und ein Stück Geborgenheit. Langsam beruhigte sich mein Gemüt. Vogelgezwitscher erreichte mein Gehör, ich begann meine Umgebung wieder wahrzunehmen.

      Neugierde und Faszination haben mich doch tatsächlich volle acht Stunden laufen lassen – und das mir, die in Deutschland jeden Meter mit dem Auto zurücklegte.

      Bis Harlem war es nicht mehr weit. Das Slumviertel der farbigen New Yorker zog mich nicht nur an, weil viele Musiker dort geboren sind, sondern weil ich wissen wollte, wie es im Slum ist. Fernsehreportagen reichten mir nicht, ich wollte live hinein, fühlen, welche Atmosphäre herrscht inmitten der Unterdrückten, von der Gesellschaft an den Rand Gedrängten.

      Instinktiv spürte ich, dass das gefährlich werden könnte für mich als Weiße so ganz alleine, und verwarf mein Vorhaben. Genug der Aufregung in den letzten zwei Tagen.

      Von New York aus rief ich meine zweite Kontaktperson an, ein Mädchen namens Debbie mit Wohnsitz in Fort Lauderdale an der Küste Floridas.

      Wie Wills Mutter schien auch Debbie keineswegs überrascht, von einem wildfremden Menschen angerufen zu werden. Sofort bot sie an, mich vom Flughafen Miami abzuholen. Sie gab mir eine Beschreibung von sich und wir machten einen Treffpunkt aus.

      Am nächsten Tag saß ich im Flieger. Amerika ist groß. Der Flug dauerte über drei Stunden.

      Meine Sitznachbarin, eine ältere Dame, fragte mich aus, wer ich sei, was ich in ihrem Land suche, stolz über ihren Kontakt zu einer jungen Europäerin. Offensichtlich war ich ihr sympathisch, sie gab mir ihre Adresse und forderte mich auf, unbedingt bei ihr Einkehr zu halten, wenn ich in Palm Springs vorbeikommen sollte.

      Ich steckte den Zettel in meine Handtasche und versprach, bei Gelegenheit darauf zurückzukommen.

      Nach der Landung in Miami traf ich auf Debbie. Mit einem riesigen, alten Rover holte sie mich ab.

      Auf dem Weg registrierte ich, Miami ist eine Geschäftsstadt voller Wolkenkratzer, eine lückenlose Reihe von Hotelbauten versperrt den Zugang zum Strand. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Kaum in Debbies Apartment angekommen, zeigte sie mir Kühlschrank und Bad und teilte mir mit, sie müsse noch weg. „Feel at home and help yourself.“ Damit ließ sie mich allein. In Deutschland würde man einen fremden Menschen nicht bei sich in der Wohnung lassen. Hatte sie so viel Vertrauen zu mir oder war das eher Gleichgültigkeit?

      Gegen Abend kam sie zurück, duschte, stylte ihre kurzen Haare, kleidete sich exklusiv in Schwarz, schminkte ihre Augen pechschwarz, Lippen dunkelrot und fuhr mit mir in eine Undergrounddisco. Eine Punkband spielte, zu laut zum Reden.

      Beim Heimkehren zeigte sie mir, wo ihr Fahrrad zu finden sei, erklärte den Weg zum Beach, notierte die Telefonnummer ihrer Arbeitsstelle, falls Probleme auftauchen sollten, und ging zu Bett.

      Ich rollte mich auf der Schlafcouch im Wohnzimmer in meinen Schlafsack und ließ den Tag Revue passieren. Debbie war wirklich freundlich, ich konnte mich nicht beklagen, aber irgendetwas fehlte mir trotz ihrer Offenheit und Gastfreundlichkeit, vielleicht war es Wärme.

      Als ich erwachte, war sie fort. Voller Entdeckerlust eilte ich hinunter zum Fahrrad und radelte die Straße entlang, breit wie eine Autobahn, ohne Kurven, schnurgeradeaus.

      Ein Hypermarkt erregte meine Aufmerksamkeit. Der Laden machte seinem Namen alle Ehre, ein Areal von der Grundfläche eines Dorfes, vorneweg ein gigantischer Parkplatz. Drinnen verirrt man sich zwischen endlosen Regalen. Unfassbar, wie viele Sorten Chips es geben kann, wie viele verschiedene Müslis. Allein die Knabberabteilung, so groß wie in Deutschland ein gesamtes Geschäft. In den Reihen mit Brot entdeckte ich Schwarzbrot. Sah zwar nicht aus wie bei uns, war ungewöhnlich weich, aber immerhin schwarz. Ich nahm ich es mit. Später entlarvte ich es als ganz normales, mit Zuckercouleur dunkel gefärbtes Weißbrot. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ja, da ist was dran.

      In der Mittagshitze bestieg ich meinen Drahtesel, fuhr die Straße bis zum Ende durch und landete am Strand. Der Atlantik empfing mich mit klarem Hellblau. Aufgeheizt von der Sonne und vom Radfahren, freute ich mich auf das kühle Nass.

      Doch oh! Was ist das? Null Temperaturunterschied. Das Wasser exakt so warm wie die Luft. In dieser riesigen Badewanne plantschte ich ausgelassen herum. Bis ich eine Filmszene erinnerte, in der ein Hai einem Menschen das Bein abbiss. Vorbei war's mit meiner Unbeschwertheit. Erschrocken hielt ich inne, inspizierte umsichtig die Meeresoberfläche. Ich war allein im Wasser, schwamm zügig an Land und legte mich in den Sand.

      Ein junger Amerikaner gesellte sich zu mir, tat freundlich, war mir aber unangenehm. Als er begann, aufdringlich zu werden, packte ich meine Sachen und floh zu meinem Fahrrad.

      Bestürzt stellte ich einen platten Reifen fest. Am Rad befand sich keine Luftpumpe. Weit und breit kein Radfahrer zu sehen, der mir eine Pumpe leihen könnte, schob ich es zur nächsten Telefonzelle und rief Debbie an. Sie blieb cool, holte mich ab und brachte mich nach Hause. Das war mir sehr unangenehm. Trotz ihrer Hilfsbereitschaft fühlte ich wieder diese unpersönliche Kühle. Gleich darauf kehrte sie zurück zur Arbeit. Ich überlegte, was ich tun könnte, um mobil zu werden. Auto mieten stand außer Frage, ich besaß keinen Führerschein mehr.

      Abends erzählte ich Debbie von meinem Problem.

      „Das ist kein Problem“, widersprach sie, „du holst dir einfach einen amerikanischen Führerschein. Wenn du sowieso schon fahren kannst, brauchst du nur den Fahrtest zu bestehen. Fertig.“

      Ordentlich herausgeputzt besuchten wir eine andere Diskothek. Auch hier wurde Live-Musik gemacht, aber wie! Die Band glänzte nicht nur mit exzellentem Spiel, sondern beeindruckte zusätzlich mit einer ausgetüftelten Tanz-Show. Derart Professionelles siehst du in Deutschland in großen Sälen, nicht aber in einer gewöhnlichen Disco. In der Pause konnte ich ein Wort mit den Musikern wechseln. Sie machten das hier jeden Abend,

Скачать книгу