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lud er mich zu sich nach Hause ein. Das verunsicherte mich, ich wusste wenig über diese Krankheit, nur dass sie sehr ansteckend sei, aber konnte man sich nicht nur über Blut oder Schleimhaut anstecken? Verlegen verbarg ich meine Angst vor Ansteckung, obwohl er mir wahrscheinlich medizinisch alles genau hätte erklären können. Ich wollte seine Einladung nicht ausschlagen, er war doch bereits Außenseiter der Gesellschaft, also ging ich mit. In seiner Wohnung bewegte ich mich nur sehr vorsichtig. Als ich auf die Toilette musste, wuchsen meine Befürchtungen, da ich dies für einen Ort der Ansteckungsgefahr hielt. Ich schämte mich. Nicht über meine Angst zu sprechen, war töricht, dennoch wollte ich ihn nicht wie einen Aussätzigen behandeln.

      Die Einfachheit und Klarheit, mit der er über seinen Tod sprach, hatte etwas Ergreifendes an sich, nichts Beängstigendes. Trotz seiner Jugend schien er sich mit dem Tod angefreundet zu haben. Seine innere Stärke berührte mich tief. Mit einem Bein im Grab schien er irgendwie mehr da zu sein als diejenigen, die mitten im Leben stehen.

      Was ich täte, wenn ich erfahren würde, dass ich nur noch zwei Jahre zu leben hätte? Ich weiß es nicht, habe aber im Grunde keine andere Wahl, als den Tod mit ins Leben einzubeziehen. Möglicherweise entscheide ich mich in der einen oder anderen Lebenssituation anders, wenn ich den Tod mit im Blick habe. Vielleicht kann ich schon mal einige Dinge vorher sterben lassen, bevor ich selber sterbe. Zum Beispiel Rachegefühle irgendjemandem gegenüber oder alte, verhärtete Wut, sämtliche Besitzansprüche. Ich bräuchte mich selbst nicht mehr so fürchterlich wichtig zu nehmen, bin nur einer von vielen, die auch alle sterben müssen. Kann eigentlich jedwede Gefühle sterben lassen, nachdem sie gefühlt sind, jegliche Gedanken, nachdem sie einmal gedacht sind, ja, jede Sekunde müsste ich sterben lassen, um die nächste in vollen Zügen genießen zu können. Mein ganzes Leben ist in Wahrheit ein Sterbeprozess. In jeder Sekunde sterben Körperzellen. In sieben Jahren ist nicht eine einzige Zelle mehr übrig, habe ich mich vollkommen erneuert, bin ich tatsächlich nicht mehr die alte. Ich sterbe ständig und erneuere mich ständig. Alle, die schon mal tot waren und wieder ins Leben zurückgeholt worden sind, erzählen das gleiche, es wird ganz hell und es ist schön. Wenn ich jede Sekunde sterben lasse, um mich an der nächsten zu erfreuen, muss mein Leben auch hell und schön werden. Nur – wie macht man das?

      Den jungen Aidskranken verließ ich mit bewegtem Herzen. Die Nacht war schon hereingebrochen, ich schlief im Auto auf dem großen Platz vor der Kirche. Gottes Haus würde mich beschützen.

      Am Morgen weckte mich die Sonne. Ich schlenderte durch die Straßen, um das besondere Ambiente an diesem Endpunkt der Welt auszukosten. Zwischen den Häusern gab es mehrere richtige Saloons wie im wilden Westen. Zu meiner Überraschung herrschte schon morgens um zehn reges Treiben. Bands spielten in allen Pubs originale Western-Musik mit Geige und Mundharmonika. Ich kam am Haus von Ernest Hemingway vorbei, konnte mir gut vorstellen, wie er hier Inspirationen für seine Bücher empfing. Dieser Platz Key West war wirklich speziell.

      Die zwei Wochen, die ich das Mietauto gebucht hatte, näherten sich dem Ende.

      Ich trat meine Rückreise an, blieb noch einen Tag bei Debbie und flog anschließend über New York nach Deutschland.

      Das war meine Amerikareise. Nicht gefunden, was ich erhoffte, hatte ich jedoch etwas erworben: Die Gewissheit, weit weg von zu Hause, von allem, was mir vertraut ist, sein und überleben zu können.

      Meine ersten Flugversuche sind zufriedenstellend verlaufen.

      Einzug ins gelobte Land

      Wir schrieben das Jahr 1988. Es war Januar. Winter in Deutschland. Nass. Kalt. Grau.

      Eine freie Woche lag vor mir ohne Auftritte oder Studiotermine. Die Sehnsucht nach Wärme lockte mich ins Reisebüro. Verschiedene Last-Minute-Angebote standen zur Auswahl, Portugal/Algarve, Griechenland/Kreta, Kanarische Inseln, Israel/Tel Aviv – stopp! Wo liegt das eigentlich genau? In Vorderasien. Da müsste es orientalisch zugehen, das reizte mich. Ich buchte und ging nach Hause meinen Rucksack packen.

      Am nächsten Nachmittag fand ich mich in Tel Aviv wieder. Hier sah es genauso westlich aus wie in Europa. Die Menschen trugen Blue Jeans, Kopfhörer im Ohr, kauten Kaugummi, der Verkehr lärmte wie in jeder Großstadt. Ohne Umschweife fragte ich den nächst besten Israeli, wo denn etwas Altes, Verschleiertes zu finden sei.

      „Go to Jerusalem“, war die Antwort.

      Am Kiosk holte ich mir einen Stadtplan. Tel Aviv sah darauf so klein aus, als könne man es zu Fuß durchqueren. Vergnügt spazierte ich zur Central Bus Station und setzte mich in den Bus nach Jerusalem. Von meinem Fensterplatz aus beobachtete ich die Szenerie. Gegenüber wartete ein Grüngekleideter mit einer Angelrute in der Hand. Seltsam, laut Plan ist kein See in der Nähe.

      An unserer ersten Haltestelle entdeckte ich wieder jemanden mit Angelrute. Der Bus hielt, der Grüne stieg ein. Jetzt erkannte ich es: Die Angelrute war gar keine Angelrute, sondern ein Gewehr. Die Waffe im Arm setzte sich der Soldat neben mich. Der Lauf zeigte auf meine Rippen. Schon etwas befremdlich. Auf der anderen Straßenseite erblickte ich eine Familie. Der Mann trug die Einkaufstasche, Sohn an der Hand, Frau schloss gerade die Haustür auf, in Soldatenuniform gekleidet, ein Maschinengewehr über ihrem Rücken. Aha. Alltag in einem bedrohten Land. Ein gewöhnungsbedürftiger Anblick.

      „Where you go?“, sprach der Soldat mich unvermittelt an. Das war zwar kein korrektes Schul-Englisch, aber ich verstand ihn ja.

      „Ich suche was Altes, Ursprüngliches, Echtes, Originales“, versuchte ich zu erklären.

      Er riet mir in die Old City von Jerusalem zu gehen, die Altstadt. Dort gäbe es auch eine Jugendherberge.

      Nach zwei Stunden Fahrt erreichten wir Jerusalem. Die Central Bus Station liegt in der New City. Ich erfragte meinen Weg vorbei an modernen Einkaufsläden zum mächtigen Jaffa-Gate, einem der vier Tore zur Altstadt, schritt hindurch und betrat eine andere Welt.

      Kleine Gassen schlängelten sich durch das uralte Gemäuer, teilweise mit den alten Steinen bogenförmig überdacht. Die Mauern gingen eine in die nächste über. Vor kleinen, grün oder blau gestrichenen Haustüren tranken Araber ihren Tee, um die Köpfe die kennzeichnenden Arafat-Tücher. Einzigartige Atmosphäre, sehr intensiv. Meine Zellen begannen zu vibrieren. Diese uralten Steine erweckten den Eindruck, als sei hier eben noch Jesus entlang gegangen. Ich spürte förmlich seine Fußtritte auf dem Pflaster und hörte das leise Rauschen seines Gewandes an den Mauern vorbeistreifen. Ein Araberjunge kam mir entgegen. Auf dem Holzkarren, den er vor sich her schob, stapelten sich frisch gebackene Sesamküchlein, die vor Honig trieften und eine schmale, klebrige Spur auf dem Steinboden hinterließen. Ich konnte nicht widerstehen. Für einen Schekel kaufte ich ihm eins ab. Wie köstlich! Ja, dies war das Land, in dem Milch und Honig flossen.

      Die verwinkelten Gassen, mal breiter, mal schmaler, bildeten an Kreuzungen kleine Plätze. Abbiegungen, enge Seitengässchen, führten manchmal weiter, endeten gelegentlich auch einfach vor einer Mauer. Schräg gegenüber öffnete sich eine pastellgrüne Holztür im Gestein. Eine schwarz gekleidete Frau mit einem Schleier vor Mund und Nase lugte hervor, blickte mich ungeniert eindringlich an. Kräftiger Kajal um die Augen betonte ihren stechenden Blick, der mir durch Mark und Bein fuhr. Blitzartig drehte ich um und schlenderte auf der Hauptgasse weiter.

      Am nördlichen Ausgang der Old City gelangte ich wieder an ein großes Tor, das Damaskus-Gate. Ein älterer Araber hinter einem Holzstand verkaufte Postkarten an Neuankömmlinge. Ein Junge bot trockene Sesamringe an. Zwei Soldaten lehnten, ins Gespräch vertieft, an einem Torbogen im Schatten. Noch wollte ich die Altstadt nicht verlassen, machte kehrt. Außer mir, keine weiteren Touristen. Ich war allein mit ein paar Arabern, einigen Soldaten und Kindern, die durch die Gassen liefen oder kleine Köstlichkeiten feilboten. Vollkommen fasziniert verlor ich das Bewusstsein für die Zeit, fühlte mich zweitausend Jahre zurückversetzt.

      Vor einem Hauseingang parkte ein Teewagen mit dem größten, silbern glänzenden Samowar, den ich je gesehen habe. Kein Mensch in der Nähe, die Haustür geöffnet, versuchte ich im Vorbeigehen einen Blick ins Innere des Hauses zu erhaschen, aber es war zu dunkel drinnen. Meine Augen, eingestellt auf die grelle Sonne,

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