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Verhältnisse.

      Anderntags begab ich mich zur Fahrschule, einem Gebäude mitten auf einer weitläufigen, asphaltierten Fläche, unterbrochen von Kantsteinen zum Einparken. Ein Prüfer setzte sich mit mir in einen der großen Amischlitten, dirigierte mich hundert Meter geradeaus, eine Kurve zu drehen und zwischen zwei Autos einzuparken. Zufrieden nickte er. Innerhalb von zehn Minuten hielt ich einen frisch gedruckten, amerikanischen Führerschein in der Hand, für ganze fünfzig Dollar. Juchhu!

      Fröhlich schmiedete ich Pläne, ganz Florida zu durchqueren und mir berühmte Stätten anzusehen.

      Ich mietete ein kleines Auto und machte mich auf den Weg, zunächst nach Palm Springs zu der älteren Dame aus dem Flugzeug. Natürlich wollte ich sie besuchen, denn Amerika kennenlernen hieß für mich auch, zu erfahren, wie die Einwohner in ihren Behausungen leben, welchen Flair sie darin verbreiten.

      Die Frau wohnte in einer Anlage, zu der man ausschließlich Zugang durch eine Schranke erhielt. Dieses Privileg der Abgeschirmtheit gehörte nur den Reichen. Von einer Telefonzelle aus rief ich an. Niemand nahm ab. Ich parkte vor dem Haus auf der Straße und wartete. Nach fast zwei Stunden sah ich sie mit einer silberfarbenen Nobelkarosse ankommen. Die Schranke tat sich ihr auf, sie fuhr auf das Gelände. Ich stieg aus meinem Auto, rief ihr zu. Sie freute sich sehr mich zu sehen, umarmte mich wie eine alte Freundin und nahm mich mit in ihr Haus.

      Ihr Wohnzimmer schien größer als meine gesamte Wohnung in Deutschland. Sie fragte, ob ich hungrig sei und führte mich in die Küche. Sie selbst sei gerade auf Diät, hätte deshalb nur Knäckebrot und Halbfettmargarine im Haus. Später sollte ihr Boyfriend kommen, dann wolle sie mit ihm und mir ausgehen.

      Hier müssen anscheinend alle immer ausgehen mit ihrem Besuch, ich würde gerne mal zu Hause sitzen und mich unterhalten.

      Den Abend verbrachten wir im Pub. Auf einer kleinen Seitenbühne spielte ein Quartett gepflegten Country. Livemusik war in den Staaten offenbar gang und gäbe, ein Stück Kultur, welches uns in Deutschland abhanden gekommen ist. Richtige Beachtung ernteten die Musiker allerdings nicht, sie fungierten eher als lebender Plattenspieler.

      Selbstverständlich übernachtete ich bei meiner Gastgeberin. Als sie von meiner Absicht hörte, das berühmte Disney World in Orlando zu besuchen, griff sie sofort zum Telefon. Ohne mich zu fragen, verabredete sie, dass ich für die Zeit meines Aufenthaltes in Orlando bei ihrer Freundin samt Mann und Kindern wohnen werde.

      Danke für diese wundervolle Fügung.

      Auf der Strecke nach Orlando liegt Cape Canaveral. Von dort startete die erste Rakete zum Mond. Das musste ich sehen. Ein Shuttlebus fuhr uns Besucher durch das weitläufig eingezäunte Gebiet vorbei an verschiedenen Raketen, die viel kleiner sind, als ich dachte.

      Zum Sonnenuntergang erreichte ich meine Kontaktadresse, eine schmucke Holzvilla mit Garten. Die Bewohner waren gerade im Begriff wegzufahren. Die Mutter zeigte mir den Kühlschrank, legte ein Handtuch raus, wies auf das Badezimmer und verabschiedete sich mit den freundlichen Worten: „Feel free and help yourself.“ Das hat Debbie auch gesagt.

      Wieder allein in einem fremden Haushalt. Merkwürdig. Bei aller Gastfreundschaft. Ich könnte das Haus auf den Kopf stellen während ihrer Abwesenheit, was würden sie dann ihren Kindern zumuten? Fehlte den Eltern eine Art Beschützerinstinkt für ihr Heim oder bin ich zu engstirnig?

      Drei Tage hielt ich mich bei der Familie auf, bekam sie kaum zu Gesicht, und das schien auch niemanden zu stören.

      Den ersten Tag verbrachte ich von morgens bis abends in Disney World, der Superlative von Erlebnis-, Abenteuer- und Märchenpark. Den zweiten Tag im Epcot Center, der Welt in Kleinformat. In einem nachgebauten englischen Straßenzug beispielsweise steht ein englischer Pub, wo Ale ausgeschenkt wird. Daneben der auf drei Meter geschrumpfte Big Ben. Sämtliche Bedienstete tragen typisch englische Kleidung. Ähnliches gibt es für Dänemark, Russland, Japan und etliche weitere Länder. Unmöglich, sich alles an einem Tag anzusehen.

      Zum Schluss meines Mammutprogramms besuchte ich Sea World, Shows mit Mörderwalen, Delphinen und Wasserskiballett.

      Vollgestopft mit unzähligen Eindrücken rauchte mir der Kopf. Gleichzeitig hinterließ das Künstliche der Veranstaltungszentren in mir das Gefühl einer leeren Blase, als wäre ich innen hohl. Intuitiv suchte ich nach einem guten Gespräch mit bodenständigen Leuten.

      In der Familie fand außer Smalltalk nichts statt.

      Mit einem Geschenk verabschiedete ich mich und zog Richtung Everglades Nationalpark.

      In solchen Fällen hilft Natur, immer da, niemals unpässlich, oberflächlich oder zu müde. Ich erkannte, der westlichen Welt fehlt Zugang zur inneren Natur, die Verbindung zwischen innerer und äußerer Natur. So verstehe ich das Indianerdasein. Man muss nicht rote Haut haben und im Zelt leben, man muss nur verbunden sein mit sich und der Natur. Früher haben wir Menschen rudelweise in, von und mit der Natur gelebt, im Kreislauf des Gebens und Nehmens. Dieser natürliche Instinkt ist uns durch die Zivilisation abhanden gekommen. Wir zerstören die Natur, uns selbst und andere.

      Nur die Entwicklung eines neuen Bewusstseins für ein konstruktives Miteinander führt aus dem Leid.

      Diese Erkenntnis besänftigte mich, es gab also einen Ausweg aus dem menschlichen Dilemma.

      Die einmalige Sumpflandschaft der Everglades bedeckt den Süden Floridas, nicht zu verfehlen. Am Rande der Mangroven fand ich einen Seitenweg zu einer kleinen Station.

      Die Amerikaner scheinen Künstliches in der Tat zu lieben. Neben dem Stationshäuschen entdeckte ich einen kreisförmigen Holzbohlenweg durch künstlich angelegtes Sumpfgebiet. Lieber wäre ich mit einem Propellergleitboot in die Natur hineingefahren, aber das wurde nicht angeboten.

      Also flanierte ich durch dieses unnatürlich Natürliche. Ein undefinierbares Geräusch hinter mir ließ mich herumschnellen. Einen Meter von meinen Füßen entfernt stand ein Alligator. Ungefähr anderthalb Meter lang. Wie versteinert guckte er mich an. Ich wusste nicht so recht, ob ich jetzt Angst haben sollte oder nicht. Vielleicht ist er auch nur eine Imitation. Nein, er lebte. Da ich keine Angst verspürte, blieb ich stehen.

      Gegenseitig betrachteten wir uns.

      Ist schon ein tolles Gefühl, so einem Urviech zu begegnen. Dieses kleine Krokodil, entsprungen aus einer der wenigen überlebenden Arten aus der Zeit der Dinosaurier, rief etwas in mir wach. Auf einmal war ich total präsent, fühlte mich mir selbst und allen Lebewesen auf der Erde nahe. Weich, warm und voller Liebe. Leider verflüchtigte sich dieses schöne Gefühl nach einer Weile. Doch habe ich nicht aufgehört, es wiederfinden zu wollen.

      Noch am selben Tag verließ ich die Everglades, entschlossen, zum südöstlichen Ende von Amerika zu reisen, nach Key West, der kleinen Inselkette an der äußersten Spitze Floridas.

      Die verbindende Inselstraße, rechts und links von Meer begleitet, endet vor der Karibik. Das Auto geparkt, ging ich die letzten Meter zu Fuß.

      Auf dem Platz am Endpunkt versammelten sich jeden Abend Touristen sowie Einheimische zum Sonnenuntergang, um diesem Naturschauspiel zuzusehen. Ich genoss den frischen Wind und die Freiheit, hinfahren und bleiben zu können, wo es mir gefiel. Ein Trostpflaster für mein rastloses Gemüt. Keine äußere Freiheit kann befreien von dem, was einen innerlich gefangen hält.

      Ein junger Mann auf einem Stein fiel mir auf wegen seiner besonderen Ausstrahlung. Wir grüßten uns. An seinem Hallo hörte ich, er muss Deutscher sein. Sofort stellten wir uns gegenseitig die Frage: „Was machst du denn hier so alleine?“

      Offenherzig vertraute er mir an, vor einem halben Jahr erfahren zu haben, dass er unheilbar krank sei. Aids. Die Ärzte schätzten seine Lebenserwartung auf höchstens zwei Jahre.

      Oha! Plötzlich konfrontiert mit einem Tod Geweihten. Ich hatte völlig vergessen, dass wir alle dem Tod geweiht sind, früher oder später, aber auf sicher. Diese Sicherheit ist die sicherste, die wir haben, und es ist nicht verkehrt, sich mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Der Tod ist Bestandteil des Lebens.

      Der Mann erschütterte und faszinierte mich zugleich. Die

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