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und hinterher alles wieder auszuspucken.

      Und dann kam der Tag, ich war allein zu Hause, meine Gedanken kreisten pausenlos unruhig um dieses Thema, wurden schnell und schneller, mir sauste das Hirn. Händeringend lief ich im Flur auf und ab, nicht in der Lage mich zum Stillstand zu bringen. Innerer wie äußerer Amoklauf. Unaufhaltsam stieg die Lautstärke im Kopf an, bis ich es nicht mehr ertrug und abrupt stehenblieb. Ich hatte mich entschieden. Nichts konnte mich mehr halten. Der Moment war gekommen, ich probierte es aus und blieb daran hängen wie ein Fisch an der Angel.

      Ein Zwang entwickelte sich, eine Sucht, die mich in ihrem Teufelskreis gefangen hielt, sogar einen Namen hat. Bulimie. Niemand durfte davon erfahren.

      Gezwungenermaßen führte ich ein Doppelleben. Ich schämte mich vor mir selber. Mit Vernunft und Verstand war da nichts zu machen. Immer wieder packte mich diese dunkle Unruhe, bis die Gedanken so schnell rasten, dass ich es einfach tat, damit wieder Ruhe im Kopf ist.

      Frühkindliche Störung lautete die Diagnose! Ich führte alles auf meine Adoption zurück, weil meine Mutter mich am Tag meiner Geburt verlassen hat. Ein irreparabler Schaden. Auf ewig geprägt schien es mein Schicksal, mich durchs Leben zu quälen, scheinbar verrückt zu sein.

      Beim innersten Eingemachten hört die Kompetenz der Psychologie offenbar auf. Was für eine Erkenntnis!

      Die Ängste und die Bulimie waren nur Symptome. Aber für was genau? Welche Ursachen verbargen sich dahinter? War es überhaupt möglich, dass es für mich Heilung gab? Wie sollte sie aussehen, auf welcher Ebene sollte sie stattfinden?

      Als ein Schamane mir später einmal sagte: „Du bist nicht nur Kind deiner Eltern. Du bist auch Kind von etwas Drittem, Kind einer höheren Macht. Deine Eltern kommen auch daher“, löste das Tränen der Erleichterung aus. Nun war ich nicht mehr eine einzelne, zusammenhanglose Schneeflocke, sondern kam dort her, wo alle herkamen. Aus der Kraft, die uns beatmet, die jegliches Leben hervorbringt, die dafür sorgt, dass der Mond nicht vom Himmel fällt und die Sonne jeden Morgen aufgeht. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr einsam, sondern verbunden mit allem.

      Verbundenheit war von jeher mein innigster Wunsch gewesen, ohne den Begriff dafür gehabt zu haben.

      „Jeder Mensch ist verbunden, sonst würde er nicht atmen. Das, was uns beatmet, ist das, wo wir herkommen“, offenbarte der Schamane.

      Dieses Wissen ist nicht neu, und es mit dem Verstand nachzuvollziehen vielleicht nicht schwierig. Wenn aber mein Bewusstsein nicht davon durchdrungen ist, nützt mir das Wissen nichts.

      Flüggewerden

      In zwanzig Jahren auf Planet Erde hatte ich nicht gelernt, auch nur eine einzige Nacht allein in einer Wohnung zu verbringen. Schlief mein Freund über Nacht aushäusig, musste ich entweder mit ihm gehen oder jemanden finden, der mich bei sich aufnahm. Dunkelheit bot einen idealen Nährboden für meine Heidenangst. Allein im Dunkeln aufwachen steigerte sie ins Unermessliche. Vor Geräu-schen, Dingen, die ich sehen, ahnen oder befürchten, Gefühlen, die ich erleben würde. Angst vor der Angst. Ich war erwachsen und nicht lebensfähig. Sehnte mich nach Erlösung. Vielleicht hilft einfach nur üben, trainieren.

      Erneut brach ich auf. Innerhalb einer Busreisegruppe wähnte ich mich sicher. Bei der Zimmerreservierung bestand die Wahl zwischen Einzel- und Doppelzimmer. Mutig bestellte ich ein Einzelzimmer.

      Zwei Tage dauerte die Fahrt an den Ort meines Herzens, selbstverständlich Sizilien.

      Zum Sitzen und Aus-dem-Fenster-Schauen fehlte mir die Ruhe. Meinem Wunsch nach Eingebundensein entsprechend machte ich mich nützlich. Mit Zustimmung des Busfahrers durfte ich die winzige Küche im Heck übernehmen und die Reisenden mit Kaffee und Tee bedienen. Bei dem einen oder anderen verweilte ich, um ein Gespräch zu beginnen und etwas über ihn zu erfahren. Bald kannte ich jeden einzelnen Fahrgast. Alle freuten sich, wenn ich kam.

      Die Nächte in meinem Einzelzimmer überstand ich erstaunlich gut.

      Daraus schöpfte ich den Mut, meine Kreise zu erweitern. Ich flog über den Atlantik auf die kanarische Insel Gomera, westlich von Nord-Afrika. Allein. Ohne meinen Freund und ohne Reisegruppe im Rücken. Gomera sollte ein Geheimtipp sein, vom Tourismus kaum entdeckt, mit etlichen unberührten Stränden und Natur. Das Unberührte lockte mich, das vom Menschen noch nicht Verunstaltete. Wildwüchsige Landschaften, Wälder und Seen. Unbewusst war mein Bestreben, zurück zu meinem eigenen, unberührten Urzustand zu finden, zum Frieden, der in mir herrschte, bevor das Leid des Lebens auf der Erde mich erfasste.

      Trotz aller Übung hielten sich Ängste und Essstörungen hartnäckig. Mein Zustand verschlimmerte sich sogar. Mehrmals stand ich mitten in der Stadt, zitternd, heulend, verwirrt, irgendwie wissend, dass ich in dieser Stadt wohne, gleichzeitig aber auch nicht. Selbst meinen Namen Marlisa erinnerte ich dann nur schemenhaft, ohne Bezug dazu. Das machte mir Angst.

      Einmal quoll ein regelrechter Schreianfall aus mir heraus. Obwohl ich nicht alleine war. Ein Studienfreund und ich wanderten einen einsamen Strand entlang, als etwas leise in mir zu rumoren begann. Ich wurde unruhig ohne ersichtlichen Grund, aufgewühlt wie die See. In meinem Kopf nahm die Lautstärke zu. Mein Atem beschleunigte, röchelte, fauchte gegen Wind und Wellen, wandelte sich zu einem Ton, der aus meiner Kehle heraus wimmerte, erst wie zartes Wehklagen, dann heftiger und zunehmend lauter. Im Leid versinkend spürte ich meinen Körper nicht mehr. Wie von unsichtbarer Hand geführt, stoppten meine Füße, wendeten mich dem Meer zu. Jetzt schrie es aus mir heraus, schrie und schrie aus Leibeskräften. Keine Worte, nur langgezogene Laute.

      Voller Mitgefühl stand mein Studienfreund neben mir. Er wusste, er konnte nichts für mich tun.

      Lange schrie es aus mir heraus, bevor es wieder aufhörte.

      Danach hatte ich Angst, meinen Mund zu öffnen, nicht sicher, ob Sprache herauskommen würde oder Schrei.

      Ich verstand nichts. Wollte das ändern. Musste was tun, irgendwas, damit der Wahnsinn endet.

      Getrieben vom inneren Drängen suchte ich die Lösung bei Männern, aber es kam lediglich zu Sex und anschließend weinte ich, ohne zu wissen warum. Meinen Freund liebte ich deswegen nicht weniger abgöttisch. Er konnte nicht nachempfinden, dass ich diese Erfahrung für mich machen musste und verließ mich.

      In Wahrheit hatte ich herausfinden wollen, ob Sex ein Weg ist zur inneren Befreiung, zum inneren Frieden. Nein. Ist er nicht.

      Zu spät kam diese Erkenntnis. Meinen Liebsten verloren zu haben schmerzte entsetzlich. Unwiderruflich von mir gelöst widerstand er allen Versuchen, ihn zurückzugewinnen. Verbindung gekappt, Nabelschnur durchtrennt. Mutterseelenallein, haltlos, desorientiert mit Schmerzen im Bauch wurde das Leben zur Qual. Jedes Erwachen ohne Hoffnung, nur endlose Leere und Angst, hundert Mal am Tag.

      Unbewusst verstärkten in meinem System gespeicherte Emotionen aus der Zeit, als meine Mutter mich verließ, meinen derzeitigen Schmerz, das Grauen, das quälende Warten, das wachsende Entsetzen beim Begreifen, dass mein Symbiosepartner einfach nicht wiederkommt.

      Etwas in mir wartete immer noch.

      Ich weiß nichts, was mehr wehtut als Liebeskummer. Weit weg wollte ich, ganz weit weg, am liebsten raus aus meinem Körper und nicht wieder rein.

      Mich vor Sehnsucht verzehrend rief ich ihn eines Nachts um halb vier in betrunkenem Zustand an. Er war mir nicht böse. Ich schluchzte ihm meine Verzweiflung ins Ohr, faselte vor mich hin, bis er sagte, er müsse jetzt los, seinen Wagen beladen mit den Sachen für den Flohmarkt, alles Gute, tschüss.

      Alles Gute, tschüss, was fällt dem denn ein?! Will keine Verantwortung mehr für mich übernehmen?! Obwohl er genau weiß, dass ich alleine nicht lebensfähig bin? Hastig nahm ich noch einen Schluck aus der Flasche. In mir brodelte es wie in einem Vulkan. Vorsichtig taumelte ich die Stufen hinunter, bestieg meinen kleinen Fiat und fuhr langsam und so aufmerksam wie möglich in seine Richtung. Um diese Uhrzeit war die Stadt menschenleer. Vorschriftsmäßig blinkte ich, bog rechts ab und sah bereits die beiden Fenster seiner Wohnung am Ende der Häuserschlucht. Licht brannte

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