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      Welche Konsequenzen ergeben sich jedoch beim Transfer kultureller heldenepischer Texte in einen fremden Literatur- und Kulturraum, der über ein anderes kollektives Gedächtnis und ein differierendes Sagengedächtnis verfügt? Freilich kommt man nicht umhin, auch die Ausgangstexte in ihrer synchronen Überlieferung miteinzubeziehen. Hier wird zunächst ein prüfender Blick in die romanistische Forschung zu zentralen Fragenkomplexen, gattungsrelevanten Merkmalen und der Position der ausgewählten chansons de gestechansons de geste im Hinblick auf ihre Funktion im franko-romanischen Literatursystem nötig: Kann man hier von einer zentralen Position der schon früh kanonisierten Chanson de RolandRoland ausgehen, während andere, jüngere Texte, wie der für diese Untersuchung ebenfalls relevante Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople, der parodistische Züge abseits der typisch heldenepischen Karlsverehrung trägt, womöglich in der Peripherie anzusiedeln sind? Die Funktionsbestimmung der chansons de geste, ihre Position im eigenen literarischen System in chronologisch differierenden Phasen lässt sich mit Hilfe des funktionalistischen Ansatzes der PolysystemtheoriePolysystemtheorie im ersten Teil der Untersuchung feststellen. Mit der zielsprachigen Orientierung der Polsystemtheorie korrelieren auch der Ansatz des Kulturtransfers sowie Bourdieus Reflexionen im Hinblick auf die transnationale Ideenzirkulation – sie sind allesamt nicht dem „Primat des Ausgangsfeldes“4 verpflichtet, sondern werden kontextunabhängig transferiert. Es sind die strukturellen Faktoren im Aufnahmefeld bzw. -system, welche die Domestizierung der transferierten Texte gemäß einer internen Logik bestimmen. Diese strukturellen Faktoren in den neuen Aufnahmesystemen, dem schwedischen und dem dänischen, gilt es zu identifizieren. Hierfür werden synchron-überlieferungsgeschichtliche Kontextualisierungen vorgenommen: Die erhaltenen Texte werden als Intertexte in ihrer unmittelbaren kodikologischen Nachbarschaft auf die interne Logik der SammelhandschriftenSammelhandschrift Cod. Holm. D4Cod. Holm. D4, Cod. Holm. D4aCod. Holm. D4a (Fru Märtas Bok), Cod. Holm. D3Cod. Holm. D3 (Fru Elins Bok), AM 191 fol.AM 191 fol. (Codex Askabyensis) sowie der Børglumer Handschrift Vu 82Cod. Holm. Vu 82 hin analysiert. Die Tatsache, dass die hier behandelten Texte in Sammelhandschriften erhalten sind, ist in vielerlei Hinsicht wichtig, ist doch davon auszugehen, dass die Kompilatoren dieser mittelalterlichen Anthologien mit Bedacht unterschiedliche Genres und Textformen zusammenstellten, profane wie religiöse. Die Dynamik einer solchen Sammelhandschrift kann laut Ad Putter auf dreifache Weise ausgelegt werden: kodikologisch („as an aspect of the history of manuscript production“5), strukturell („as an effect of the miscellany’s internal organization“) und diachron („as belonging to a crucial transitional phase in the history of a book“). Sowohl die Wahl der Texte als auch ihre Gruppierung erfolgten vor dem Hintergrund einer anzunehmenden internen Logik, einer Art „fil rouge“,6 die man hinter den kompilatorischen Intentionen vermutet. Jeder Text einer Sammelhandschrift sollte daher „both in its own right and as an actor of an inter-textual dialogue within the anthology“7 gelesen und interpretiert werden. So wird anhand der fünf Handschriften eine polysystemische Funktionsbestimmung innerhalb des kodikologischen Subsystems erreicht.

      Um der Frage nach der Position der Texte um Karl den Großen im altschwedischen und altdänischen Literatursystem nachzugehen, wird eine weitere Kontextualisierungsebene beschritten. Hierfür werden die politischen und kulturellen Entwicklungen im schwedischen bzw. dänischen Kulturraum zum Zeitpunkt der angenommenen Entstehungszeiträume der konkreten Handschriften präsentiert. Ausgehend von der These, Übersetzen sei eine politisch motivierte Aktivität und bedrohe die dominanten ideologischen und kulturellen Werte einer Gesellschaft durch „introducing a new semiotics of cultural signification, bringing into a receptor culture elements of an ideological framework which has been developed in an alien context“,8 können die übersetzten Texte als Reaktion auf die zeitgenössische historische und politische Entwicklung hin gelesen und interpretiert werden: Dienen die dominanten Modelle und Diskurse der altfranzösischen Texte zur Stärkung der eigenen Herrschaftsideologie? Stellen sie idealisierte Verhaltensnormen für die schwedische und dänische Aristokratie dar, ist das Interesse an diesen Stoffen der allgemeinen Entwicklung geschuldet, so etwa der Ritterrestauration in Dänemark des 15. Jahrhunderts? Die Bearbeitung der Fragen muss Objekt von Interpretationen bleiben, handelt es sich doch hierbei um fiktive, artifizielle Texte, für deren Einfluss auf die Gesellschaft und Politik dank der fragmentarischen Überlieferungslage nur wenige Evidenzen ausgemacht werden können. Dennoch erscheint auch dieser extrakodikologische Blick auf die Texte lohnend, da dieser eine weitere Lesart initiieren kann.

      Anschließende Analysen der erhaltenen Texte der altostnordischen Karlsdichtung soll im Hinblick auf die zuvor erarbeiteten, in den altfranzösischen chansonschansons de geste vorherrschenden Motive, Diskurse und Bilder die Frage nach der Übersetzbarkeit kultureller Texte beantworten. Ohne das korrelierende franko-romanische Sagengedächtnis verlieren die chansons ihren kanonisierten Status als Subjekt und zugleich machtvolles Speichermedium des kulturellen Gedächtnisses; ihre gattungsdistinktiven Elemente werden entsprechend den Bedingungen des ostnordischen literarischen Systems transformiert, um durch Adaption neuer Formen ein möglichst dynamisches, homogenes System zu erreichen. Auch die Techniken der Domestizierung der übertragenen Werte, Normen und Diskurse aus den altfranzösischen Epen werden in Übereinstimmung mit ihrer Kompatibilität mit dem sie aufnehmenden literarischen System zu bestimmen sein: Sollen die chansons innovatorisch wirken, indem sie näher an der Originalsprache bleiben, oder sind die Innovationen zu radikal, so dass eine Integration ins einheimische Literatursystem misslingt? Durch die sorgfältige Textanalyse wird man die Frage beantworten können, wie die transferierten Texte an den neuen kulturellen Horizont adaptiert werden, ob es sich hierbei um Übertragung, Nachahmung oder eine Form der produktiven Rezeption handelt, um mit dem Vokabular des Kulturtransferforschers Lüsebrink zu sprechen.

      Die Analyse der zu untersuchenden Texte aus den fünf oben genannten Handschriften wird sich schrittweise der Beantwortung der eher allgemein formulierten Fragestellung nach dem Transfer heldenepischer Texte in den ostnordischen Kulturraum annähern, indem die zentralen Motivkomplexe der chansons de gestechansons de geste in den ostnordischen Bearbeitungen vor dem Hintergrund der intra- und extrakodikologischen Wirklichkeiten beleuchtet werden. Hierfür wurden folgende Themenkomplexe gewählt: Die universelle Bedrohung der christlichen Welt durch die Heiden wird an vielen einschlägigen Stellen in den chansons de geste, natürlich insbesondere in der Chanson de RolandRoland, aber auch in der Chanson d’Aspremont, in einer propagandistischen Weise narrativ umgesetzt – implizit durch die Darstellungen der ‚Andersgläubigen‘ und ihrer Idole und explizit durch gelehrte Dialoge als Verfahren christlicher Sinnstiftung. Wie gingen die ostnordischen Bearbeiter mit diesen Bildern um, musste doch die ostnordische Literatur im späten Mittelalter kein Legitimationsangebot der Kreuzzugsideologie darstellen? Finden sich in den einschlägigen Textstellen weitere Ausführungen, relativierende Aussagen, Innovationen und unabhängige Entwicklungen oder fügen sich auch die ostnordischen Übertragungen in die westeuropäische Tradition der überwiegend abwertenden Haltung dem Anderen gegenüber? Welche Funktionen übernehmen die Sarazenen in der volkssprachigen Literatur Schwedens und Dänemarks?

      Ein weiterer Themenkomplex widmet sich dem Thema nach der Dependenz von Gender und Genre. Heldenepik exemplifiziert eine literarische Tradition, geboren aus der Krise einer bedrohten Feudalgesellschaft und ist als ein weitgehend exklusives maskulines Universum aufzufassen, in dem die Frauen aus dem genrebezogenen Wertesystem ausgeschlossen werden – Gaunt spricht hier von einer „monologic masculinity“.9 Geht man jedoch davon aus, dass die heldenepischen Texte auf dem Weg ins ostnordische literarische System ihre Genre-Grenzen öffnen, ihre Adaptation also nicht an Genre-Konventionen gebunden ist und man durchaus höfisierende Tendenzen voraussetzen kann, wie es schon in der altwestnordischen Kompilation Karlamagnús saga ok kappa hansKarlamagnús saga ok kappa hans der Fall war: Öffnen sich hier zugleich auch Räume für andere Umgangsformen in der Gestaltung der weiblichen Protagonisten der chansonschansons de geste? An dieser Stelle werden einschlägige Textpassagen auf ihr Potential hin überprüft, durch Aufhebung der traditionellen Genrebeschränkungen andere, innovative Konstruktionen der monologischen MaskulinitätMonologische Männlichkeit und Feminität in Interdependenz mit den Genretransformationen zu kreieren.

      Im Hinblick auf die Frage nach dem Identitätsbezug kultureller Texte spielt

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